Die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça befinden sich seit 190 Tagen im Hungerstreik. Sie fordern ihre Arbeitsplätze zurück. Vor 113 Tagen wurden sie deshalb verhaftet. Ein Gericht entschied nun die Fortsetzung der Haft.
Nach dem Putschversuch am 15. Juli wurden ähnlich einer Hexenjagd Zehntausende von Menschen, die nicht direkt mit dem Putsch in Verbindung zu bringen sind, in Polizeigewahrsam genommen, inhaftiert und aus dem Staatsdienst entlassen. Im Rahmen des Ausnahmezustands (auf türkisch: OHAL) sind mit den Notstandsdekreten auch die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça entlassen worden. Um wieder in den Staatsdienst aufgenommen zu werden, traten sie vor 309 Tagen in Ankara in einen Sitzstreik.
Als Symbole für die anderen Opfer dieser Verfahren befinden sich die beiden Pädagogen nun bereits seit 190 Tagen im Hungerstreik. Während ihrer Demonstrationen vor dem Menschenrechtsdenkmal in Ankara wurden sie vielfach von den Polizeikräften attackiert. Seit dem 23. Mai befinden sie sich in Haft. In einem Zwischenurteil entschied das Gericht nun, die Haft von Gülmen und Özakça fortzusetzen.
Vor der Gerichtsverhandlung erfuhr die Verteidigung einen herben Schlag, als zwei Tage vor dem Prozess 16 Anwälte der beiden festgenommen wurden. Am ersten Prozesstag wurden Gülmen und Özakça deshalb von Anwälten der ÇHD („Verband der zeitgenössischen Juristen“) vertreten. Betül Vangölü, eine Anwältin, erklärte, dass sie jene Kollegen vertreten, die sich derzeit in Haft befinden: “Sie wollen die bestrafen, die ihr Recht verlangen“, fügte sie hinzu. Der Vorsitzende der Anwaltskammer in Ankara, Hakan Canduran, erklärte: “Die Menschen, die hier für ihr Recht kämpfen, befinden sich in Gefängnissen, weil der Innenminister Süleyman Soylu sie als Terroristen betitelte.“
Gülmen und Özakça fordern in erster Linie freizukommen und wieder in den Staatsdienst zurückzukehren. 114 Tage sind beide bereits in Haft – und bewegen sich an der Schwelle zum Tod.
Die Aufmerksamkeit für die Gerichtsverhandlung der Akademikerin und des Lehrers war außerordentlich groß. Anwaltskammern und deren Vorsitzende sowie ca. 100 Anwälte kamen zum Prozess. Beobachtet wurde dieser auch von Gewerkschaftsmitgliedern, Vertretern von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und Mitgliedern von Oppositionsparteien.
Vor dem Prozessbeginn verhinderte die Polizei eine Pressekonferenz der Eltern und Anwälte der Angeklagten, benutzte Tränengas, um die Unterstützer vom Ort der geplanten Presseerklärung zu entfernen. 27 Personen wurden dabei verhaftet. “Ihr dürft ihre Namen nicht nennen. Das ist einen Anordnung des Gouverneur“, begründeten die Sicherheitskräfte ihr Vorgehen und behinderten Personen am Eingang zum Gericht.
In der 25-seitigen Anklageschrift wird Gülmen und Özakça unterstellt, Mitglieder der bewaffneten DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (türkisch: Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi oder DHKP-C), einer marxistisch-leninistischen Untergrundorganisation in der Türkei, zu sein. Außerdem wird Esra Özakça, der Frau von Semih Özakça – die sich ebenfalls im Hungerstreik befindet – vorgeworfen, Staatsbeamte bedroht haben.
Weder befinden sich in der Anklageschrift jedoch Aussagen, die sie in einer Rede getätigt haben soll, noch ist Esra Özakça in der Anklageschrift als Angeklagte angeführt. Die Anwälte von Özakça und Gülmen werten dies als eine Schuldvorwurf ohne zureichende Begründung: “Dies verletzt das Personalitätsprinzip der Schuld. Diese Vorwürfe wurden erfunden, um die Anklageschrift aufzublasen. Ein ungesetzlicher Vorwurf.“
Der Prozess, der um 13:30 beginnen sollte, tat dies mit einer Verspätung von 45 Minuten. Die Anwälte von Özakça und Gülmen forderten die Freilassung ihrer Mandanten. Der Staatsanwalt entschied plädierte für die Fortsetzung der Haft. Er begründete damit, dass die Angeklagten selbst nicht zur eigenen Verteidigung vor Gericht erschienen waren. Dabei verunmöglichte die Gendarmerie das Erscheinen der beiden: Die Fluchtgefahr sei zu groß. Ein anderer angeklagter Lehrer, der sich nicht in Haft befindet, beantragte einen zeitlichen Aufschub für seine Verteidigung, weil seine Anwälte derzeit in Haft sind.
Nach Prozessende fiel eine Erklärung des Vorsitzenden der Anwaltskammer von Van, Murat Timur, besonders hart aus: Mit Verweis auf den türkischen Staat und die Justiz sagte Timur: “Das ist ein Theaterstück.“ Dass Özakça und Gülmen nicht zum Gericht gebracht wurden, zeugt von der Angst der Ankläger“, sagte der Anwalt Murat Yılmaz. Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Ankara, Hakan Canduran, wies darauf hin, dass es in der Türkei keine intakte, unabhängige Justiz mehr gebe. Der Prozess, der knapp vier Stunden dauerte, endete mit einem Zwischenurteil um 18:15 Uhr.
Auch die Ehefrau von Semih Özakça, Esra Özakça, äußerte sich nach Prozessende: “Die haben sie in den Tod geschickt. Das ist eine Inquisition im 21. Jahrhundert. Ohne die Anwesenheit der Angeklagten und ihrer Anwälte wurde hier ein Urteil gefällt. Nur eine Guillotine fehlte noch. Wir haben die Guillotine zwar nicht gesehen, aber ihre Messer gespürt.“
Ali Şeker, Parlamentarier der CHP in Istanbul, sagte: “Die haben Angst. Die wollen eine Schuld erfinden. Sie wollen Menschen, die für grundlegende Menschenrechte kämpfen, außerhalb unserer Sichtweite ermorden.“
Der Prozess wird am 28. September am Gericht der Haftanstalt Sincan fortgesetzt.