Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.

Lesen Sie mehr unter
taz.atavist.com/istanbul-flughafen

Am 11. Oktober beginnt ihr Prozess: Die Journalistin und Übersetzerin Meşale Tolu

„Das ist eine Geiselnahme“

Die deutsch-türkische Journalistin Meşale Tolu sitzt in Istanbul im Gefängnis. Erst fünf Monate nach der Verhaftung wird ihr nun der Prozess gemacht. Wie fair kann er überhaupt sein?

ALI CELIKKAN, 2017-10-07

Es war der Morgen des 30. Aprils, an dem die deutsche Staatsbürgerin Meşale Tolu endgültig das Vertrauen in den türkischen Staat verlor. An diesem Tag drangen türkische Polizisten in ihre Wohnung in Kartal, einem Stadtteil im östlichen Teil von Istanbul, ein. Die Beamten der Sicherheitsbehörde pressten sie auf den Boden, verschränkten ihre Hände auf dem Rücken und transportierten sie in das Frauengefängnis Bakırköy, einmal quer durch die ganze Stadt, rund 40 Kilometer von ihrer Wohnung entfernt.

Die Beamten nahmen keine Rücksicht darauf, dass ihr Sohn Serkan, gerade mal zweieinhalb Jahre alt, an diesem Morgen neben ihr stand. Dass er all das mit ansehen musste, die Verhaftung und wie seine Mutter dann wie eine Verbrecherin in Handschellen abgeführt wurde.

Der Vorwurf, den man ihr macht: Sie sei Mitglied in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung und sie hätte Propaganda verbreitet. Bis zum Tag ihrer Verhaftung arbeitete Tolu als Journalistin für die linksorientierte Nachrichtenagentur Etkin/ETHA. Nun sitzt sie in Bakırköy – zusammen mit ihrem Sohn, den ihr ihr Großvater später brachte.

„Geheimer Zeuge“

Erst jetzt, am 11. und 12. Oktober, fünf Monate nach der Verhaftung, wird sie vor ein Gericht gestellt – und darf sich verteidigen. Die Vorwürfe basieren auf Aussagen eines anonymen, „geheimen Zeugen“. Die Strafverteidigerin Kader Tonç sagt, die Aussagen des geheimen Zeugen seien in sich widersprüchlich. Doch die Folgen könnten für die Journalistin dramatisch sein. Wenn der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation erst einmal erhoben ist, kann eine Höchststrafe von 20 Jahren drohen: Die Türkei gilt nicht erst seit April als eines der weltweit größten Gefängnisse für Journalisten. Rund 150 Reporter und Redakteure sitzen derzeit in türkischer Haft. Seit dem Putschversuch gehen die Behörden noch stärker gegen Journalisten vor, über 100 Medien ließ die Regierung willkürlich schließen.

Auch im Fall von Tolu sind die Vorwürfe und der Grund der Verhaftung nicht klar. Niemand weiß, wer der ominöse Zeuge ist, der die Anklage erhoben hat. In der Anklageschrift heißt es wörtlich: „Ich kenne sie nicht persönlich. Sie arbeitet im Namen der Terrororganisation Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) in den Bereichsstrukturen des Gazi-Viertels. Zudem beteiligt sie sich an Aktionen der Sozialistischen Frauenräte SKM, der Frauenstrukturen namentlicher Organisation.“

Tolu wird auch zur Last gelegt, vor Jahren an Protesten teilgenommen zu haben, die infolge eines völlig legalen Aufrufs der legalen Partei ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten) zustande kamen – ebenso wie die Teilnahme am Begräbnis der im Dezember 2015 in Istanbul von der Polizei getöteten Yeliz Erbay und an einer Gedenkveranstaltung für die beiden Duisburger Ivana Hoffmann und Suphi Nejat Ağırnaslı, die jeweils in den Reihen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG gegen den IS gekämpft hatten. Der Vater Ali Rıza Tolu sagt zu den Vorwürfen, seine Tochter habe die Veranstaltungen zur Berichterstattung besucht.

Hanebüchene Vorwürfe

Tolus Partner und Serkans Vater Suat Çorlu sitzt bereits seit dem 5. April in Haft. Er ist Mitglied des Parteivorstands der ESP und ihm wird vorgeworfen, zwischen 2013 und 2015 an Protesten zum folgenschweren Grubenunglück in Soma und einer Reihe von Begräbnissen und Gedenkveranstaltungen teilgenommen zu haben und deshalb „Mitglied einer Organisation“ zu sein. Bis zu seiner Festnahme engagierte sich Suat Çorlu auf den Straßen Istanbuls in der Kampagne „Nein zum Verfassungsreferendum“.

Die ESP ist eine legale politische Partei, zu deren Gründerinnen Figen Yüksekdağ gehört, die derzeit inhaftierte ehemalige Vorsitzende der HDP. Dass die ESP anders als jetzt behauptet keine Verbindungen zur verbotenen MLKP unterhält, stellte am 20. Oktober 2014 die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara fest. Dennoch hält die Regierung daran fest, die ESP mit der MLKP in Bezug zu setzen und alle Teilnehmer*innen an Protesten, zu denen die ESP aufruft, der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu bezichtigen.

Ulmer Widerstand

Auch in Ulm, wo Meşale Tolu 1984 zur Welt kam, regt sich Widerstand: Hier gehen ihre Schulfreundinnen, Lehrer und Angehörigen seit 19 Wochen auf die Straße, um sich für ihre Freilassung einzusetzen. Cengiz Doğan ist einer, der mitprotestiert. Er kennt sie seit seiner Kindheit. „Wir fordern Freiheit für Meşale. Wir sehen keinen Grund für ihre Inhaftierung. Deshalb wollen wir uns Gehör zu verschaffen“, sagt er.

Der Vater Ali Rıza Tolu geht davon aus, dass ihre deutsche Staatsbürgerschaft eine große Rolle bei ihrer Verhaftung gespielt hat. Ihre Verhaftung habe in erster Linie mit der Krise der deutsch-türkischen Beziehungen zu tun. Er sagt: „Es gibt keinen Grund für ihre Inhaftierung.“ Die türkische Regierung hat der deutschen 4.500 Fälle übermittelt, Gülen-Anhänger, die nach Deutschland geflohen sind und die die Bundesrepublik nun ausliefern soll. Bisher weigert sich aber die deutsche Regierung.

Ali Rıza Tolu sieht seine Tochter als eine politische Geisel. „Ja, man muss es beim Namen nennen: Diese Verhaftung ist eine Geiselnahme“, sagt er. Er hat seiner Tochter geholfen, aus der Haft heraus eine Botschaft an die Öffentlichkeit zu richten. In ihrer Nachricht betont Tolu: Sie werde nicht zulassen, im Tausch gegen eine ausgelieferte Person freigelassen zu werden.

Nichts zu bereuen

Die Anwältin Kader Tonç erklärt, Tolu habe das Gazi-Viertel, wo sie angeblich im Untergrund gearbeitet haben soll, in ihrem ganzen Leben nur einmal gesehen. Zwei Haftprüfungstermine hatte Meşale Tolu seit der Veröffentlichung der Anklageschrift im August. Der Richter begründete die Verlängerung der Untersuchungshaft dennoch in beiden Fällen damit, dass die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen sei.

„Dabei ist seit Vorlage der Anklageschrift kein einziges Beweismittel mehr zu den Akten hinzugekommen“, sagt Anwältin Tonç. Nicht einmal zwischen der ursprünglichen Haftbegründung vor fünf Monaten und der Anklageschrift sind neue Vorwürfe oder Beweise hinzugekommen. Für Tonç sind sowohl die Verzögerung der Anklageschrift als auch der Beschluss, mit geheimen Akten zu operieren, rechtswidrig und zeigen, dass hier ein politisches Verfahren vorläge. Meşale Tolu bekommt einen Teil der Briefe, die ihr ins Gefängnis geschrieben werden, ausgehändigt. Andere werden von der Gefängnisleitung zurückgehalten. Dennoch geht es ihr anscheinend gut, über körperliche Probleme klagt sie nicht. Sie habe nichts zu bereuen und wolle nach ihrer Entlassung weiter als Journalistin arbeiten.

Ali Rıza Tolu besucht seine Tochter jede Woche im Gefängnis. Nun sei die erlaubte Besuchszeit von 45 auf 30 Minuten gekürzt worden. Als deutsche Staatsbürgerin kann Meşale nur Besucher empfangen, die sich vorher um eine Besuchsgenehmigung des Justizministeriums gekümmert haben.

Jede Woche im Ministerium

Ali Rıza geht jede Woche zweimal zum Ministerium: einmal, um den Antrag auf Besuchsgenehmigung abzugeben, und einmal, um die Genehmigung abzuholen. An einem weiteren Tag der Woche fährt er seinen Schwiegersohn im Gefängnis besuchen und an einem vierten Tag seine Tochter und seinen Enkelsohn in Bakırköy. „Ich bin ihr Vater. Ich stehe hinter meiner Tochter in allem, was sie tut, mit allem, was ich habe. Auch wenn ich es manchmal mehr als satt habe, ziehe ich das durch. Es erfüllt mich mit Stolz, an ihrer Seite stehen zu können“, sagt er.

Auch Serkan sei lieber bei seiner Mutter als draußen, erzählt er. Er habe im Gefängnis zwar kein normales Leben oder soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen, aber sein Großvater holt ihn immer wieder zu Ausflügen nach Istanbul ab. Tolu ist eine von 18 Angeklagten in ihrem Verfahren. 14 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft.

Baki Selçuk, der Specher der Istanbuler Solidaritätsinitiati­ve für Meşale Tolu, weist darauf hin, dass die Verhandlungen nicht in einem Gerichtsgebäude im Stadtraum stattfinden, sondern in einem eigens in der Haftanstalt Silivri errichteten Verhandlungssaal. Für ihn ist das ein Versuch, die Angeklagten fern von allen Blicken an einem Ort zu verurteilen, der für die interessierte Öffentlichkeit schwer zu erreichen ist. „Ein Blick in die Anklageschrift zeigt, dass viele Vorwürfe leicht zu entkräften sind. Das ist ein politisches Verfahren. Wir sind der Meinung, sie muss freigelassen werden – aber bei den derzeitigen Bedingungen in der Türkei kann es gut sein, dass sie weiter sitzen muss.“

Unter dem Befehl von Dritten

Auch Anwältin Kader Tonç ist überzeugt, dass Meşale Tolu im Rahmen eines fairen Verfahrens freigelassen werden müsste, und hält es für falsch, das Verfahren auf einem Campus im Gefängniskomplex durchzuführen. Alle Vorwürfe beziehen sich auf die Presse- und Meinungsfreiheit, sagt sie.

Was erhofft sich Ali Rıza von den Verhandlungen nächste Woche? „Falls der Richter wirklich eigene Entscheidungen fällen kann, ohne von außen beeinflusst zu werden, dann wird sie aus der Haft entlassen. Aber wenn Richter und Staatsanwalt unter dem Befehl von Dritten stehen, wird meine Tochter weiterhin als Geisel festgehalten“, antwortet er. Auch er ist dabei, das Vertrauen in den türkischen Staat endgültig zu verlieren.

Übersetzung: Oliver Kontny

ALI CELIKKAN, 2017-10-07
ZURÜCK
MEHR VOM AUTOR