Die Türkei reagiert auf Terrorgefahr mit massiver Polizeipräsenz im öffentlichen Raum. Das löst bei den Menschen Angst und Panikattacken aus.
Auf dem Weg zu ihrer Arbeit bei einer privaten Versicherung im Zentrum Ankaras meidet die 31-jährige Ayşe den zentralen Kızılay-Platz und seine Umgebung. Dort stehen bis an die Zähne bewaffnete Sicherheitskräfte mit ihren kugelsicheren Schilden, Panzerfahrzeugen und Kontrollpunkten. Jedes Mal, wenn sie das alles sieht, ist ihr, als würde gleich eine Bombe hochgehen oder sonst etwas Schlimmes passieren. „Nirgendwo scheint es mehr sicher zu sein. Überall Krieg und Detonationen. Ich mag das Land wirklich, trotzdem bin ich ständig auf der Hut“, klagt sie. Aus Angst um ihre Sicherheit will sie ihren Nachnamen nicht nennen.
Ayşe gehört zu jenen, bei denen die Erschütterungen in der Türkei der letzten Jahre psychische Wunden hinterließen. In Ankara geboren und aufgewachsen, hat sie seit langem mit Angststörungen und Panikattacken zu tun und ist ständig nervös und beunruhigt.
Selbst SchülerInnen und StudentInnen, die nach dem Unterricht in größeren Gruppen unterwegs sind, verunsichern sie. Sie geht dann beiseite und wartet ab, bis sie genau weiß, was los ist. Meistens wechselt sie beunruhigt den Weg. Ayşe leidet unter einer Angststörung in derart fortgeschrittenem Stadium, dass ihre durchaus erfolgreiche Arbeit und das Verhältnis zur Mutter, mit der sie zusammenwohnt, davon beeinträchtigt wird. Seit einer Weile bekommt sie professionelle Hilfe in Form einer Traumatherapie. Dort kann sie in einem geschützten Umfeld über ihre Ängste sprechen und lernt, damit umzugehen.
Weil Ayşe um ihre Sicherheit fürchtet, möchte sie auch nicht, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird. Immerhin ist sie auf unsere Bitte hin bereit, uns in einem Café in der Konur Sokak zu treffen, einer der quirligsten Gassen von Kızılay. „Ich komme hier gar nicht mehr her. So viele Polizisten hab ich gesehen, bis ich hier war, ich weiß gar nicht, wie viele“, fängt sie an. Die Gasse, in der wir uns treffen, kreuzt die Yüksel Caddesi, wo die PädagogInnen Nuriye Gülmen und Semih Özakça monatelang ihren Hungerstreik abhielten, nachdem eines der Dekrete, mit der die Regierung „die Öffentlichkeit von terroristischen Elementen säubern“ will, sie um ihre Arbeit gebracht hatte. Wiederum per Dekret wurde in dieser Gasse eine „mobile Wache“ für Spezialeinheiten errichtet, um die Proteste nach der Verhaftung von Nuriye und Semih zu unterbinden. „Wo Polizei ist, fühle ich mich besonders unsicher. Ich denke, jeden Augenblick kann alles Mögliche passieren“, erzählt Ayşe.
Ayşe ist nicht die Einzige, die von derartigen Ängsten gequält wird. Auslöser für diese Phase, die Menschen in Ankara in diesen Zustand versetzt hat, war der Terroranschlag des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf die Friedenskundgebung am 10. Oktober 2015. Es folgten weitere Anschläge und schließlich der Putschversuch am 15. Juli 2016. So wurde Ankara zu dem, was es heute ist. An manchen Tagen kommt man vor lauter Ausweiskontrollen kaum vom Fleck.
Und so ist es nicht nur in Ankara. Zwischen Juni 2015 und Januar 2017 wurden landesweit 34 Sprengstoffanschläge verübt. Über 500 Menschen, zum großen Teil Zivilisten, kamen dabei ums Leben. Zugleich herrscht seit dem Scheitern der Friedensphase in den kurdischen Provinzen im Südosten Bürgerkrieg. All das führte dazu, dass überall im Land an Zu- und Abfahrten sämtlicher Städte und an zentralen Punkten, genau wie in Ankara, gepanzerte Sicherheitskontrollen eingeführt wurden.
Die Präsenz massiver Sicherheitsmaßnahmen, die ein Gefühl wie im Krieg vermitteln, geht mit der Beschneidung von Freiheiten einher. Denn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist nicht so simpel, wie die Worte von Politikern und Bürokraten es weismachen wollen. Dazu befragt, erklären Fachleute, die Situation löse in der Gesellschaft das Gefühl aus, „bedrängt“ zu sein.
Sezai Berber, Generalsekretär des türkischen Ärzteverbands und auf Traumatherapie spezialisiert, drückt es so aus: „Personen, die ich in der Traumatherapie begleite, brauchen nur einen Uniformierten zu sehen, um immer wieder zu erleben, was sie durchgemacht haben.“ Die Überpräsenz von Sicherheitskräften beunruhige die Menschen. In der Türkei brauche es aber „zivile Sicherheitsmaßnahmen, die Vertrauen schaffen“, zum Beispiel statt bewaffneter Uniformierter Sicherheitsscanner an U-Bahnstationen.
Dass jeder Regierungsgegner als „Terrorist“ abgestempelt wird, löse die Befürchtung aus, festgenommen zu werden, wenn man sich wehrt, ergänzt Berber. „So kommt es, dass man gegenüber staatlichen Maßnahmen und Interventionen den Mund hält.“
Ein weiteres Problem bei den Sicherheitsmaßnahmen ist, dass sie mit Gefahr assoziiert werden. Die Psychologin Tülinay Kambur ist eine von denen, die fordern, Sicherheitsvorkehrungen dürften nur solange vorgehalten werden, wie sie gebraucht werden. Wenn Menschen sich ständig in Gefahr glauben, führe dies dazu, dass sie nach einer Weile meinen: „Ich schaffe das nicht alleine“. Das wiederum löse ein Gefühl der Unzulänglichkeit aus: „Man kommuniziert nicht mehr miteinander, sondern ist vor anderen ständig auf der Hut.“
Die Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen, „legitimiert“ durch die Terroranschläge, wirft die Frage auf, ob es um „Sicherheit für den Staat oder für die Bürger“ geht.
Die Politologin Prof. Dr. Ayşen Uysal sagt, bei den Sicherheitsdebatten stehe der Schutz des Staates im Vordergrund. „Die Legitimität des Staates soll durch die Sichtbarkeit der Polizei auf der Straße bewiesen werden.“ Uysal spricht von nicht sichtbaren Konsequenzen, die die enorme Sichtbarkeit der Polizei hat: „Man will Sie überwachen, unter Kontrolle halten, unschädlich machen und verhindern, dass Sie opponieren. Sie haben es dann mit Systemen zu tun, die nicht für Ihre Sicherheit sorgen sollen, sondern Sie überwachen und unter Kontrolle halten.“