Welche Folgen hat die Missachtung des wegweisenden Verfassungsgerichtsurteils? Interview mit einem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten
Das Verfassungsgericht urteilte, dass die lange Untersuchungshaft im Fall der seit fast anderthalb Jahren inhaftierten Journalisten und Autoren Mehmet Altan und Şahin Alpay ein Rechtsverstoß sei und die beiden freigelassen werden müssen. Daraufhin brach in der Türkei ein nie zuvor dagewesener „Justizkampf“ aus. Die untergeordnete Strafkammer beugte sich sechs Mal nicht dem Urteil des Verfassungsgerichts, das für sie verbindlich ist, und ließ die Journalisten nicht frei.
Das Verfassungsgericht ist die höchste juristische Instanz in der Türkei, es untersucht Rechtsverletzungen und prüft, ob Urteile verfassungskonform sind. In einem Referendum schuf das Volk 2010 die Möglichkeit, beim Verfassungsgericht Individualbeschwerde nach westlichem Standard einzureichen. Seit 2012 wurden sämtliche Urteile des Verfassungsgerichts wegen Rechtsverletzungen unverzüglich umgesetzt. Jetzt verweigerten zum ersten Mal untergeordnete Strafgerichte die Umsetzung.
Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts Yekta Güngör Özden beantwortet unsere Fragen zu diesem jüngsten Rechtsverstoß in der Türkei.
taz.gazete: Ist es in der Vergangenheit je vorgekommen, dass Urteile vom Verfassungsgericht abgelehnt und nicht umgesetzt wurden?
Yekta Güngör Özden: Unter meiner Ägide gab es keine Individualbeschwerde, doch eine solche Haltung von untergeordneten Gerichten hat es weder zu unseren Zeiten noch später gegeben.
Was bedeutet es, sich einem Urteil des Verfassungsgerichts nicht zu beugen?
Das Verfassungsgericht hat seine Pflicht getan und ein Urteil gefällt. In einem Rechtsstaat sind Urteile des Verfassungsgerichts für jeden unstrittig verbindlich. Das Gegenteil zu behaupten, ist keine Rechtlosigkeit, sondern Rechtsgegnerschaft. Ein Urteil ist nur in juristischer Hinsicht diskutierbar. Sie können anderer Meinung sein, das Urteil für nicht angemessen halten. Doch die Treuepflicht Recht und Rechtsstaat gegenüber verlangt, dass Sie sich der Umsetzung des Urteils nicht entziehen. Eine Nichtumsetzung steht überhaupt nicht zur Diskussion.
Inwieweit wirkt die Nichtumsetzung eines Urteils vom Verfassungsgericht sich auf den Rechtsweg im Inland und damit auch auf den Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aus?
Ich bin der Auffassung, dass der EGMR mit aller Sorgfalt vorgeht. Der EGMR wird zu einem Urteil kommen, das die Nichtumsetzung des Urteil des Verfassungsgerichts tadelt und kritisiert. Im Anschluss könnte der EGMR sagen: „Sie können sich unmittelbar an uns wenden“, weil man sieht, dass der Rechtsweg im Inland nicht funktioniert.
Was passiert, wenn der EGMR ein Urteil in diesem Sinne fällt und die Türkei sich auch dagegen auflehnt?
Sie erhält die Strafe für Nichtumsetzung. Die Auffassung, dass die Türkei kein Rechtsstaat ist, wird wachsen. Die Türkei wird in die Lage eines Landes gebracht, das auf eine Diktatur zusteuert und in dem die Verbindlichkeit demokratischer Prinzipien zur Diskussion steht. Dazu hat niemand hat das Recht dazu.
Werden das Urteil auf Rechtsverletzung des Verfassungsgericht und das vom EGMR erwartete Urteil Präzedenzcharakter für Journalisten wie Deniz Yücel haben, die seit langem in Untersuchungshaft sitzen? Wie wird sich diese Sache auf die inhaftierten Journalisten auswirken?
Das Urteil vom Verfassungsgericht kann selbstverständlich Präzedenz schaffen. Doch jeder Fall liegt anders. Vor diesem Hintergrund kann niemand sagen, das Urteil würde ohne Auswirkungen auf andere Verfahren bleiben. Ein Urteil vom EGMR würde der Verantwortung, das Urteil umzusetzen, für alle, egal ob Journalist, normaler Bürger, Unternehmer, Bürokrat, mehr Gewicht verleihen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe