Dass das Urteil des Verfassungsgerichts missachtet wird, ist dramatisch für den Rechtsstaat. Jetzt muss die Türkei den Konflikt lösen
Vergangene Woche gab das türkische Verfassungsgericht endlich sein Urteil über die Beschwerde der beiden Journalisten Mehmet Altan und Şahin Alpay bekannt – es ist ein Präzedenzurteil. Seit über einem Jahr sitzen sie in Untersuchungshaft, und allein auf Grundlage ihrer Artikel und mündlichen Aussagen wird für beide erschwerte lebenslange Haft gefordert – jene Strafe, bei der eine Begnadigung oder Entlassung vor dem physischen Tod nicht vorgesehen ist.
Die Verfassungsbeschwerde von Mehmet Altan und Şahin Alpay konzentriert sich im Wesentlichen auf die Tatsache, dass sie ohne dringenden Tatverdacht inhaftiert wurden und damit das in der türkischen Verfassung verbriefte Recht des Menschen auf Freiheit und Sicherheit verletzt wurde – und natürlich darauf, dass die Meinungs- und Pressefreiheit außer Kraft gesetzt ist, wenn im Rahmen journalistischer Tätigkeit gemachte Aussagen und veröffentlichte Artikel als Beweismittel in einem Haftbefehl auftauchen.
Mit diesem Urteil ist eine Bresche in die Mauern der Knäste geschlagen worden, in denen die Journalisten gehalten werden. Nicht nur für Şahin Alpay und Mehmet Altan, sondern für sämtliche der rund 150 derzeit inhaftierten Journalisten ist das Urteil richtungweisend. Urteile des Verfassungsgerichts können nicht revidiert werden. Sind sie einmal gefällt, sind sie unanfechtbar.
Um ehrlich zu sein: Vor über einem Jahr hatte ich die Verfassungsbeschwerde eingereicht. Es gab keine Reaktion, und so hatte ich angesichts der jüngsten Praxis des Verfassungsgerichts alles andere als ein Urteil erwartet, das sich so durchdringend mit der Substanz des Falles auseinandersetzt. Das Verfassungsgericht folgt den Argumenten der Beschwerdeführer bis zu dem Punkt, an dem alle von der Einschränkung der Meinungsfreiheit betroffenen Menschen aufatmen können. Das war überraschend.
Aber die Freude über das Urteil wurde schnell getrübt. Die Strafgerichte, vor denen die Journalisten verurteilt werden, weigerten sich schlicht, die Angeklagten aus der Haft zu entlassen. Zuerst mit der Begründung, das Verfassungsgerichtsurteil sei nicht im Gesetzesblatt abgedruckt worden und dann mit dem Argument, das Verfassungsgericht sei in ihren “eigenen Zuständigkeitsbereich eingedrungen“, indem es unberechtigterweise eine Beweiswürdigung vorgenommen habe. Es ist zwar durchaus möglich, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht gemocht und kritisiert wird. Dass es aber nicht umgesetzt wird, ist unmöglich – zumindest bis heute.
Die Strafgerichte, die Journalisten verurteilen, haben damit die Verfassungsordnung verletzt, an die sie gebunden sind. Nur um die Journalisten nicht freilassen zu müssen, haben sie juristisch nicht gedeckte Argumente vorgebracht und damit eine folgenschwere Rechtskrise losgetreten, die in der Geschichte der Republik ihresgleichen sucht.
Denn die Verfassung legt unzweideutig fest, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes für sämtliche Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden bindend sind. Alpay und Altan sind, nachdem sie diesem Verfassungsurteil zum Trotz nicht freigelassen wurden, nun eigentlich keine “inhaftierten Journalisten“ mehr, sondern treffender als “ihrer Freiheit beraubte Journalisten“ zu bezeichnen. Die Türkei muss jetzt diesen Konflikt lösen, der zu einer offenen Staatskrise führt. Entweder kann sie Maßnahmen gegen die unrechtmäßigen Haftentscheide ergreifen, oder aber das Verfassungsgericht vollends funktionslos machen.
Es wäre auch zu schön gewesen. In einem Land, das über 3.000 Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch ihres Amtes enthoben hat, müsste es schon seltsam zugehen, wenn ein freiheitlicher Entscheid des Verfassungsgerichtes auch umgesetzt würde. Immerhin wurde unlängst die Entscheidung eines Gerichts, die Journalisten Murat Aksoy und Atilla Taş aus der Untersuchungshaft zu entlassen, von einer übergeordneten Instanz als Begründung angeführt, um einfach mal die ganze Kammer zu entlassen, die diese Entscheidung getroffen hatte. Im katastrophengeplagten „unabhängigen“ Justizsystem der Türkei müsste es eigentlich zu Widerstand und Füßescharren kommen.
Wenn aber diejenigen, die Verfassungsentscheide einfach ignorieren, die Oberhand gewinnen, wird der Europäische Menschenrechtsgerichtshof das türkische Verfassungsgericht nicht mehr als effektiven und funktionalen Rechtsweg anerkennen und im Prinzip sämtliche Bürger der Türkei das Recht bekommen, ihre Einzelbeschwerden unmittelbar an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu richten.
Aber würde ein Land, das sich um Entscheide seines eigenen Verfassungsgerichts nicht schert, mögliche Entscheidungen eines europäischen Menschenrechtsgerichts überhaupt zur Kenntnis nehmen? Seit vielen Jahren bemüht sich die Türkei darum, Teil des institutionalisierten Europas zu werden. Kann sie es sich leisten, aus der europäischen Rechtsprechung einfach auszutreten?
Ich gehöre zu den Menschen, die weiterhin der Überzeugung sind, dass die Türkei sich allen Krisen zum Trotz nicht vom westlichen System wegreißen wird.
Die sozioökonomische Beschaffenheit, die historische Perspektive und die Erfahrungen, die sich durch alle Krisenlagen hindurch gebildet haben, könnten durchaus ein Grund sein, dass mittelfristig diese juristisch bindenden Entscheide umgesetzt, die Renitenz der untergeordneten Gerichte gebrochen und den Journalisten ihre Freiheit zurückgegeben wird. Insbesondere wenn man sich vor Augen führt, welch beeindruckende soziale und juristische Kämpfe die demokratische Opposition ausficht.
Sollte ich mich irren, stehen wir alle vor der Katastrophe, oder sagen wir lieber: vor dem Ende.
aus dem Türkischen Oliver Kontny