Trotz des EU-Türkei-Deals fliehen nach dem Putschversuch viele Menschen aus der Türkei nach Europa. Wie passt das zusammen?
Latife Akyüz’ Blick wandert hinüber zum Lagerfeuer. Es ist kurz vor Weihnachten, einige Junkies und Obdachlose verbrennen den Sperrmüll ihres Viertels auf dem Exarchion-Platz in Athen. Eine kleine Frau in zerrissenen Kleidern springt auf einem Brett herum und will es zerbrechen. Sie braucht mehr Feuerholz für das Lager der dreißig bis fünfzig Obdachlosen an diesem Platz mitten in Athen.
Wie Latife Akyüz ist auch Ismail Erdoğan ein Geflüchteter. Er lebt in Athen, sie eigentlich in Frankfurt. Akyüz sagt, an manchen Ecken Frankfurts sehe es auch schlimm aus, dort habe sie aber wenigstens einen Job. Dank des Philipp-Schwartz-Stipendiums der Humboldt-Stiftung erhielt die Soziologin eine Professur an der Goethe-Universität. Ihre Stelle in der Türkei verlor sie, nachdem sie im Januar 2016 einen Friedensaufruf der „Akademiker für den Frieden“ gegen den Krieg in den kurdischen Regionen unterschrieben hatte.
„Seit dem Putschversuch verhaftet die türkische Regierung die Opposition per Dekret. Marxisten, Akademiker, Aktivisten, die jahrelang gegen die Gülenisten und ähnliche Organisationen gekämpft haben, werden jetzt mit der Gülen-Organisation in einen Topf geworfen,“ sagt Akyüz, die Ismail Erdoğan gerade in Athen besucht.
Der 38-jährige Koch aus Istanbul musste fliehen. Er sagt: „Ich bin Wehrdienstverweigerer.“ Ein Grund für seine Flucht. In der Türkei ist man entweder Soldat oder Deserteur, einen Ersatzdienst gibt es nicht. Als Deserteur wird man mit Bußgeldern und Gefängnis bestraft. “Ich möchte nicht verhaftet oder gewaltsam in den Militärdienst gesteckt werden. In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit und manchmal entscheidet ein 20 Jahre altes Kind über deine Zukunft. Deshalb bin ich hier. Zumindest habe ich hier Freunde. Die sind auch Wehrdienstverweigerer und ich habe Kontakt zur Linken in Griechenland“, sagt er.
Wie dem Koch mit den langen schwarzen Dreadlocks ergeht es derzeit Tausenden seiner Landsleute. Tausende Türken flüchteten seit dem Putschversuch im Juli 2016 nach Griechenland. Sie machen den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei, mit dem Geflüchtete daran gehindert werden sollen, das EU-Gebiet zu erreichen, obsolet. Laut Eurostat beantragen monatlich 300 türkische Staatsbürger Asyl in Griechenland.
Der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei wirkt zwar in der Abwehr der Flüchtlinge an der Grenze zu Bulgarien mit aller Härte. Im vergangenen Jahr kamen 100.000 Menschen weniger in Deutschland an als noch im Jahr zuvor. Über das Meer und den Fluss Mariza im Norden Griechenlands kommen dennoch weiterhin Menschen. 12.000 türkische Staatsangehörige beantragten 2017 in Europa Asyl.
Auch deutsche Beamte halten Geflüchtete an den Flughäfen in Athen und Thessaloniki fest. Laut Innenministerium beraten vier deutsche Beamte die griechischen Grenzpolizisten. Schlepperbanden erzielen Rekordeinnahmen. Ein wirksames innereuropäisches Flüchtlingsabkommen gibt es bis heute nicht. Stattdessen steigt die Zahl der Geflüchteten aus der Türkei.
Im November 2017 starb eine fünfköpfige Familie aus der Türkei bei der Überfahrt nach Lesbos. In Athen landen viele Türken, wie viele Geflüchtete, schnell auf der Straße. Der griechische Staat kommt mit der Unterbringung nicht nach. Auch die Bearbeitung der Asylanträge dauert oft Monate. Deshalb organisieren sich die Geflüchteten selbst.
In Prosfygika, einem heruntergekommenen Viertel nahe des Stadions von Olympiakos Athen, hat Cebrail S. Anschluss und einen Schlafplatz in einem besetzten Haus gefunden. Der 26-jährige war bereits an der Uni in Mardin eingeschrieben für Kinderpädagogik, durfte dann aber wegen seiner Mitgliedschaft in der linken, prokurdischen Partei HDP nicht studieren. Er wurde verhaftet, dann wieder freigelassen. Laut Anklage drohen ihm bis zu 25 Jahre Haft. Der schmächtige Kurde mit der silbernen Brille lebt in einem baufälligen Haus mit zehn Männern in zwei Zimmern. Sie schlafen auf dünnen Matratzen auf dem Boden.
“Ich soll die zweite Hälfte meines Lebens im Gefängnis verbringen. Weil ich ein Kurde bin? Ich muss arbeiten, um meine acht Geschwister zu unterstützen. Sie können ohne mich nicht überleben und mein Leben hier ist besser als Gefängnis“, sagt er.
Der Athener Stadtteil Prosfygika entstand 1922 als Unterkunft für die Geflüchteten des türkisch-griechischen Kriegs. Als später immer mehr Menschen wegzogen und die Häuser verfielen, wollte der griechische Staat alle Gebäude aufkaufen und abreißen. Die verbliebenen Anwohner verkauften sie aber nicht. Und die freien Wohnungen wurden von linken Anarchisten besetzt. Jetzt leben hier wieder Geflüchtete, und wieder kommen sie aus der Türkei.
Manchmal schläft Cebrail auch in einem kurdischen Flüchtlingscamp in Lavrio, das 60 Kilometer von Athen entfernt liegt. Immer wieder pendelt er mit dem Bus, weil die Wohnung in Prosfygika oft überfüllt ist. In Lavrio ist mehr Platz, aber die Fahrt kostet jedes Mal zehn Euro. Geld, das er eigentlich nicht hat. Cebrail findet keine Arbeit in Athen. Als Tagelöhner arbeitet er hier und da mal auf einer Baustelle oder er hilft bei Umzügen. Eine wirkliche Zukunft sieht er nicht. Während er zwischen den Wohnblöcken umher streift, die an einer kleinen Anhöhe aufgereiht sind, erzählt er, dass er jetzt Deutsch lerne. Sein Onkel lebe in Frankfurt und zu ihm wolle er. Von Deutschland aus will er weiter für die kurdische Sache kämpfen.
Das Camp in Lavrio gibt es schon seit den achtizger Jahren. Damals flüchteten viele Kurden vor der Militärjunta und landeten hier. Bilder von „Şehiden“ oder auch Märtyrern, Flaggen der YPG aus Nordsyrien und das Konterfei Abdullah Öcalans sind hier allgegenwärtig. Bis vor kurzem war das Camp offiziell vom griechischen Staat anerkannt und es wurde mit Hilfe des griechischen Roten Kreuzes betrieben. Der stellvertretende Minister für Migrationspolitik, Yiannis Balafas, entzog den Kurden im vergangenen November die staatliche Unterstützung. Er begründete diesen Schritt damit, die Betreiber würden „Regulierungen durch internationale Gesetze nicht folgen“.
Auf ein Netzwerk, wie es die Kurden in Athen über Jahre aufgebaut haben, kann die Gruppe, die in der Türkei derzeit am meisten verfolgt wird, nicht zurückgreifen. Die Anhänger des islamistischen Predigers Fetullah Gülen, den Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich macht, haben aber einen Vorteil. Die meisten von ihnen haben Geld. Ahmet P., der aus Angst vor türkischen Geheimdienstmitarbeitern seinen echten Namen nicht nennen möchte, lebt mit seiner Familie in Athen in einer Ferienwohnung, die sie über AirBnB gefunden haben.
Er war Physiklehrer an einer Gülen-Schule. Seit über zwanzig Jahren ist er in der Gülen-Organisation. Die anderen hier nennen ihn nur „Abi“, „großer Bruder“. Er ist einer der Köpfe der Organisation hier in Athen und unterstützt andere bei ihrer Flucht aus der Türkei. Wie die meisten Geflüchteten will auch er nicht in Griechenland bleiben. Deshalb helfen die Mitglieder der Gülen-Bewegung sich gegenseitig, auch bei der Weiterreise nach Westeuropa. “Was Erdoğan gerade tut, ist Mord an seinem eigenen Volk. Wie kann ich als Lehrer am Putschversuch beteiligt sein? Ich war nur ein Lehrer in einer Grundschule und Teil der lokalen Gülen-Gruppe. Aber ich habe niemanden getötet. Ich war nicht an einem Putschversuch beteiligt“, erzählt er.
Nachdem er seinen Job verloren hat und ihm sein Pass abgenommen wurde, entschlossen seine Ehefrau und er sich zur Flucht. „Um hierher zu kommen, habe ich mein Auto verkauft. Von dem Geld haben wir uns dann ein Schlauchboot besorgt. Mit dem sind wir von Edirne auf dem Fluss bis zur griechischen Grenze gefahren. Auf der vierzehnstündigen Fahrt war uns sehr kalt,“ sagt Ahmet P und erzählt von der Flucht:
Von der Stadt aus geht die nächtliche Fahrt auf dem Fluss Mariza nach Süden. Nach vielen Stunden Ausharren im Dunkeln, mit der ständigen Angst entdeckt zu werden, kommt auf der rechten Seite das griechische Ufer. Die türkische Regierung brüstet sich damit, genau hier im vergangenen Jahr mehr als 50.000 Geflüchtete aufgegriffen zu haben. Das zumindest berichtet die regierungsnahe türkische Zeitung Daily Sabah. Für seine Kinder sei es besonders schlimm gewesen, sagt Ahmet und schwenkt seine Kaffeetasse von der einen Hand in die andere. Es mache ihn traurig, dass sie so etwas erleben mussten, „aber es hat sich gelohnt“.
In Deutschland beantragten 2017 monatlich zwischen fünf- und sechshundert türkische Bürger Asyl. Zum Ende des Jahres stieg die Zahl laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) auf mehr als 1.000 Asylsuchende im Monat. Im letzten Jahr wurden 2.500 Anträge bewilligt, 7.500 wurden abgelehnt.
Mit dem Flüchtlingsabkommen, das zwischen der EU unter Federführung Deutschlands und der Türkei geschlossen wurde, sind deutsche Regierungsvertreter unter Druck geraten. Für Deutschland ist das ein wirksames Abkommen. Aber immer mehr türkische Geflüchtete machen den Flüchtlingsdeal sinnlos. Es stellt sich die Frage, ob die Türkei ein sicheres Land für Geflüchtete ist, während türkische Bürger nach Europa fliehen müssen. In Griechenland zeigt sich, wie brüchig das Abkommen ist. Hier werden die Probleme auf der Straße sichtbar. Ein Flüchtlingsabkommen mit sich selbst hat die EU bisher nicht getroffen. Es geht darum, die Geflüchteten mit allen Mitteln abzuwehren. Die Grenze zu Griechenland ist dabei zur vordersten Front geworden.
Am Exarchio-Platz im gleichnamigen Anarchistenviertel von Athen, wo der Staat weit weg, ist die Solidarität mit Geflüchteten groß. Unterstützung für Geflüchtete kommt von den Anarchisten im Athener Stadtteil Exargia. Auf einem großen Plakat am Rande einer Hauptstraße steht: “From Germany to Greece, fight the police.“ Während Erdoğan über den kleinen Platz schlendert, sagt er, dass er auf keinen Fall bleiben will. Auf lange Sicht will er unbedingt in die Türkei zurück. '’Die Türkei hat sich in eine Hölle verwandelt, in der niemand Freiheit hat. Es ist so schwer, woanders zu leben, aber ich möchte nicht wieder verhaftet werden. Eines Tages werde ich in die Türkei zurückkehren“, sagt Erdoğan.