Eine dritte Bosporusbrücke, ein dritter Flughafen und jetzt ein Kanal: Experten sorgen sich über negative Folgen eines weiteren Istanbuler Großbauprojekts.
Istanbul ist eine Metropole, die seit Jahren im Wandel begriffen ist. Und die „Megaprojekte“, die mit großen Summen aus den öffentlichen Budgets verwirklicht werden, zerstören die Stadt schon ebenso lange: Die dritte Bosporusbrücke, die die Nordwälder Istanbuls zerstören, der dritte Flughafen, der die landwirtschaftlichen Flächen und Dörfer im betroffenen Gebiet einverleibt, die Grünflächen, die bei jeder günstigen Gelegenheit für neue Immobilienprojekte erschlossen werden – und jetzt der Kanal Istanbul. Dieses Großprojekt erklärte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2011 selbst zu einem „verrückten Projekt“. So werden in der Türkei seit geraumer Zeit prestigeträchtige Bauprojekte genannt.
Mit dem Kanal Istanbul soll in Istanbul westlich vom Bosporus ein 45 Kilometer langer, 250 Meter breiter und 25 Meter tiefer Kanal zwischen dem Schwarzen und dem Marmarameer entstehen. Die Verantwortlichen für das Projekt erklärten, das Ziel sei es, dass die Transportschiffe, die bisher auf dem Bosporus fahren, über diesen Kanal umgeleitet werden. Experten und Umweltaktivisten dagegen sind davon überzeugt, dass dieses Projekt eigentlich dazu dient, neue Flächen für Immobilien- und andere Bauprojekte zu erschließen.
Während die Diskussionen über das Projekt fortdauerten, erschien im Januar 2017 ein Video, in dem das Projekt vorgestellt wurde. Darin hieß es, dass „alle Vorbereitungen für den Kanal Istanbul“ getroffen seien. Für die Planung habe man sich von anderen Kanälen in Panama und den Niederlanden inspirieren lassen. Organisationen aus Zivilgesellschaft, Experten und Umweltaktivisten riefen zur selben Zeit dazu auf, das Projekt zu annullieren.
Der erste offizielle Schritt für das „verrückte Projekt“ des Staatspräsidenten wurde im vergangenen Dezember eingeleitet: So begann der Gutachtenprozess „ÇED“ zur Evaluierung von Einflüssen auf die Umwelt. In dem Gutachten untersucht das Ministerium für Umwelt und Stadtplanung, welche positiven und negativen Einwirkungen das geplante Projekt auf die Umwelt haben wird. Darüber hinaus soll ermittelt werden, wie negativen Folgen entgegengewirkt werden kann. Es sollen Maßnahmen bestimmt werden, mit denen negative Folgen auf die Umwelt auf ein Minimum reduziert werden können.
Laut dem Antrag an das Ministerium für Umwelt und Stadtplanung belaufen sich die Kosten für den 45 Kilometer langen Kanal Istanbul auf 60 Milliarden Türkische Lira (rund 12 Milliarden Euro). Im Verlauf des Kanals befinden sich Tausende Hektar landwirtschaftlicher Flächen, Wälder, Wassergebiete und Dörfer. Im betroffenen Gebiet liegt außerdem die historische Höhle von Yarımburgaz. Sie gehört zu den ältesten archäologischen Stätten der Türkei. Der Bau des Kanals wird knapp fünf Jahre dauern.
Im Rahmen der Bauarbeiten sollen 1,5 Milliarden Kubikmeter Material von der Unterwasserfläche entfernt werden. An anderen Stellen soll das Ausgegrabene wieder im Meer gelagert werden. Drei Inselgruppen würden an der Mündung des Kanals im Marmarameer entstehen. Dabei wird in Istanbul in den nächsten 30 Jahren ein Erdbeben mit einem Wert über 7 auf der Richterskala erwartet. Weil die Bevölkerungszahl in der Umsetzungsphase des Projekts weiter zunehmen wird und zusätzliche Bauarbeiten in dem Gebiet stattfinden werden, erwarten Experten, dass bei diesem großen Erdbeben mehr Menschen sterben werden als ohne das Projekt Kanal Istanbul.
In dem Gebiet der geplanten Ausgrabungen um den Küçükçekmece-See befinden sich drei aktive tektonische Bruchlinien, wie der Geophysiker Hakan Alp in einem Artikel aus dem Jahr 2014 feststellt. Der Erdbebenexperte Prof. Dr. Haluk Eyidoğan sagt, dass diese Bruchstellen aufgrund des Erdbebenpotentials im betroffenen Gebiet mit größter Vorsicht untersucht werden müssten.
Auch andere bedenkliche Umweltschäden werden kritisiert: Cevahir Efe Çelik von der Kammer für Umweltingenieure sagt, dass es im Rahmen der gigantischen Ausgrabungen und Bauarbeiten zu ernsthaften Emissionen kommen wird. Die Türkische Stiftung für den Kampf gegen Erosion (TEMA) erklärte: „Das Schwarze und das Marmarameer einfach so zusammenzuführen, bedeutet das Risiko einzugehen, dass das Marmarameer und Istanbul zu Orten werden, die nicht mehr lebenswert sind.“
Die Stiftung kritisiert, der geplante Kanal würde das klimatische Gleichgewicht, vor allem jenes des Schwarzen Meers, stören, das durch die natürlichen Wasserflüsse gegeben sei: „Auch eine kleinste Änderung in diesem Gleichgewicht wird sich langfristig auf die klimatische Dynamik im Schwarzen Meer auswirken.“ So offenbart sich der geplante Kanal Istanbul angesichts der hohen Risiken für Mensch und Natur tatsächlich als ein „verrücktes Projekt“ – nicht in einem euphemistischen Sinne wie im Regierungssprech, sondern als Gegensatz zu vernünftig, nützlich oder sinnvoll.
Aus dem Türkischen von Volkan Ağar