Innerhalb einer Woche wurden in der Türkei zwei trans Frauen ermordet. Dafür ist die ganze Gesellschaft verantwortlich, denn niemand schaut hin.
Begüm war eine von zigtausenden trans Frauen in der Türkei. Am 9. August verschwand sie spurlos. Zehn Tage später wurde ihr verbrannter Leichnam in einem Hotelzimmer in Bursa aufgefunden. Seither ist mehr als eine Woche vergangen, doch von der Polizei gibt es noch immer keine offizielle Erklärung. Es muss aber eine medizinische und logische Erklärung für den Fall geben.
Nachdem ich in den sozialen Medien dazu gepostet hatte, meldeten sich Hotelangestellte bei mir und sagten, es sei undenkbar, dass ein Leichnam über längere Zeit in einem Hotelzimmer liege. Bekannte aus Istanbul schickten mir ein vor Ort gedrehtes Video. Es sind furchtbare Bilder. Ein verbrannter Leichnam, ein Polizist untersucht ihn mit einem Holzknüppel. Wir haben das Jahr 2018, aber die Spurensicherung in der Türkei wendet Methoden aus dem Mittelalter an. Für die Polizei handelt es sich bei dem Mordopfer lediglich um eine trans Frau, die sowieso den Tod verdient hat.
Mit diesen Bildern im Kopf konnte ich weder in die Redaktion meiner Zeitung gehen, noch in meinen Deutschkurs. Das Leben schien stillzustehen. Ich dachte an die Vergangenheit. Wie oft hatte ich leblose Körper von Freund*innen von Polizeistationen, aus Leichenhallen, von Straßenrändern mit einem Müllsack eingesammelt und auf dem anonymen Friedhof bestattet. Ich trauerte noch um Begüm, da kam über WhatsApp bereits die nächste Nachricht: „Sie haben Esra ermordet …“
Esra Ateş war in Beyoğlu meine Nachbarin gewesen. Damals arbeitete sie als Bedienung in einem Nightclub. Mit ihren gesamten Ersparnissen hatte sie die Wohnung unter mir gekauft. Ab 2005 kamen Anleger aus Ländern wie Qatar, Saudi Arabien und Kuwait, und begannen, in Beyoğlu und Umgebung ganze Gebäude aufzukaufen. Damals gab es jeden Tag Polizeirazzien in den Wohnungen von trans Frauen. Wir wurden auf die Hauptwache Taksim gebracht und misshandelt, mit fingierten Beweisen legte man uns Straftaten zur Last, schrieb Protokolle und bestellte unsere Vermieter*innen mitten in der Nacht auf die Wache. Diese Schikanen gingen so lange, bis viele von uns es nicht mehr aushielten und aus Beyoğlu wegzogen. Erst da wurde uns klar, dass es darum ging, Anlageobjekte für das arabische Kapital zu schaffen.
Seit damals kenne ich Esra. Sie war ein herzlicher, freundlicher Mensch mit einem guten Herzen und sie liebte Tiere. Am frühen Morgen ging sie Walken. Als sie jetzt eines Morgens wie immer vom Sport heimkehrte, wurde sie im Hauseingang von einem Mann erstochen. Eines Morgens wachst du auf und es kommt ein Mörder und nimmt dir dein mühselig aufgebautes Leben.
Alle sind schuldig, alle sind Mörder: die heuchlerische Gesellschaft, die die traditionelle Familie hochhält, Familien, die aus Angst vor dem Gerede ihre Kinder verstoßen, Journalist*innen, Anwält*innen, Jurist*innen, Oppositionelle, Intellektuelle, Medien, wer auch immer euch einfällt, alle. Denn die vor ihren Augen verübten Morde an trans Menschen sehen sie alle nicht. Das System gesteht trans Menschen kein anderes Leben zu, als an Autobahnen, in Etablissements und Puffs zu arbeiten.
Ob rechte oder linke Regierungen, sie alle sind für die Morde an trans Menschen verantwortlich. Selbst innerhalb der LGBTI-Bewegung in der Türkei, die einst mit dem Motto „Die Befreiung der Homosexuellen wird auch die Heterosexuellen befreien“ antrat, sind trans Frauen diskriminiert. Ebenso wenig haben in der Türkei tätige internationale NGOs jemals die Morde an trans Menschen gesehen, geschweige denn darüber berichtet.
„Ich konnte es nicht tun, weil die Menschen es nicht zugelassen haben. Ich konnte nicht arbeiten, ich wollte etwas tun, doch ich konnte es nicht. Versteht ihr?“ Nach diesem Post sprang die 23-jährige trans Frau Eylül Cansın von der Bosporusbrücke in den Tod. Die Aktivistin Hande Kader fiel einem Hassmord zum Opfer, bevor sie ihren Traum, Übersetzerin zu werden, verwirklichen konnte. Jetzt Begüm und Esra… Nur die Namen ändern sich. Der Hass, die Morde bleiben sich immer gleich. Alle werden gleich geboren, aber nicht alle dürfen gleich leben. Trans Menschen werden als Schande der Gesellschaft stigmatisiert und von gläubigen Kreisen ebenso diskriminiert wie von liberalen.
Einige NGOs führen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Statistiken über die Morde an trans Menschen. Eine sehr wichtige Initiative, allerdings ist fragwürdig, inwieweit sie die tatsächlichen Ausmaße widerspiegelt. Ungeheuer viele trans Menschen ließ man verschwinden beziehungsweise sie wurden umgebracht, ohne dass ihr Tod in den Polizeistatistiken auftauchte. Mehrere hundert trans Frauen wurden in den Achtzigern und Neunzigern in Polizeigewahrsam zu Tode gefoltert oder man ließ sie verschwinden.
Jeden Samstag versammeln sich die Samstagsmütter auf dem Galatasaray-Platz, um Gerechtigkeit für ihre in Gewahrsam verschwundenen Angehörigen zu fordern. Wie gut wäre es, wenn auch trans Frauen sich an den Sitzstreiks beteiligen würden, um Gerechtigkeit und Aufklärung über das Schicksal der verschwundenen trans Menschen fordern. Und wenn die Mörder bei der Polizei rechtlich zur Verantwortung gezogen würden!
Trotz all der Morde, Folter und Misshandlungen treten trans Frauen seit ein paar Jahren auch in anderen Berufen außerhalb der Prostitutionsbranche hervor. Das ist ihr in langen Jahren des Kampfes errungenes, selbstverständliches Recht. Wir sehen trans Menschen als Ärztinnen, Journalistinnen, Lehrerinnen, Bankerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen.
Wie wichtig ist es gerade in einer Zeit, da wieder Morde gemeldet werden, dass die 24-jährige trans Frau Efruz Kaya, die derzeit im dritten Jahr Jura an der Universität Istanbul studiert, als Anwältin in die Anwaltskammer Istanbul aufgenommen wird. Vor Gericht schnauzen Richter trans Frauen an, rüffeln sie, vermeiden, sie offen anzublicken. Sobald Efruz Kaya Anwältin ist, sind sie gezwungen, eine von ihnen mit „Frau Anwältin“ anzureden. Das ist von größter Bedeutung. Dann können Trans-Opfer, Trans-Verurteilte und Trans-Nebenkläger*innen von einer Trans-Anwältin vertreten werden. Efruz Kaya erlebt Diskriminierung und alle möglichen Schwierigkeiten im Studium, gibt aber nicht auf, geduldig steuert sie ihr Diplom an, um die erste Anwältin mit Trans-Identität in der Türkei zu werden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe