Am 10. Oktober 2015 starben bei einem Anschlag in Ankara 103 Menschen. Die Anwältin der Opferfamilien wirft den Behörden Versäumnisse vor
Am Morgen des 10. Oktober 2015, kurz nach 10 Uhr, töten zwei Selbstmordattentäter in Ankara 103 Menschen, über 500 werden verletzt. Dieser Anschlag auf eine Kundgebung für Frieden und Demokratie ist der bisher schlimmste in der türkischen Geschichte.
Die Tat wird dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zugeschrieben. Die verurteilten Täter stammen aus dem Umfeld der Terrororganisation. Anders als bei Terroranschlägen in anderen Ländern, gab es bei dem Anschlag in Ankara kein Bekenntnis des „IS“. İlke Işık vertrat als Anwältin die Opferfamilien vor Gericht, die als Nebenkläger auftraten.
taz gazete: Frau Işık, konnten Sie mittlerweile rekonstruieren, was am 10. Oktober 2015 genau passiert ist?
İlke Işık: Kurz nach dem Anschlag fuhren die Polizeikräfte mit Panzern in die schockierte Menschenmenge auf den Platz und setzte dabei Tränengas ein. Das ist im Bericht des Türkischen Ärzteverbands TTB gut dokumentiert. Die Polizeigewalt machte es für die Verwundeten noch schlimmer. Gegen die Polizisten, die an dem Tag vor Ort waren, wird bis heute nicht ermittelt.
Konnten Beweise am Tatort sichergestellt werden?
Nach dem Attentat erfolgte keine ausreichende Untersuchung. Beweise wurden meines Wissen nicht sichergestellt. Kurz nach dem Anschlag reinigte die Feuerwehr den Platz mit Hochdruckreinigern. Noch in der selben Nacht wurde der Anschlagsort wieder für den Verkehr freigegeben. Man muss wissen: Der Platz ist riesig. Es handelt sich um einen Anschlag, den zwei Selbstmordattentäter an zwei verschiedenen Punkten verübt haben. Der Platz hätte sorgfältig untersucht werden müssen. Das ist nicht passiert.
Wie zufrieden sind Sie mit dem Urteil im Verfahren?
Im August 2018 endete der Prozess gegen die Mittäter, die den Anschlag mitplanten. Neun der 19 inhaftierten Verdächtigen wurden zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt, die restlichen zehn zu Haftstrafen zwischen sieben und 12 Jahren wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Besitz von Sprengstoff“. Nicht ein einziger Polizeibeamter stand vor Gericht. Das Urteil ist somit unvollständig, rechtlich fehlerhaft und es stellt keine Gerechtigkeit her.
Wissen Sie mittlerweile, ob es ausreichende Sicherheitsmaßnahmen zum Tatzeitpunkt gab?
Laut Gerichtsprotokoll und Zeugenaussagen waren nicht genügend Polizisten vor Ort. Übliche Sicherheitsvorkehrungen, wie die polizeilichen Durchsuchung von Demonstrierenden haben an diesem Tag nicht stattgefunden.
Gab es Hinweise im Vorfeld des Anschlags?
In einem Dokument, dass der Polizei am Anschlagstag vorlag, stand sogar der Name eines Attentäters. Ungeachtet dieser Hinweise konnten die Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln am Körper aus dem südosttürkischen Gaziantep bis zum Ort der Kundgebung am Bahnhof Ankara, also etwa 700 Kilometer, fahren. Die vorliegenden Beweise und der Ablauf des Verfahrens zeigen, dass der „IS“ nicht allein verantwortlich für dieses Massaker ist. Die Behörden tragen eine Mitschuld.
Wie konnte sich ihrer Meinung nach der „IS“ in der Türkei so gut organisieren?
2013, als der sogenannte IS syrische Gebiete entlang der Südgrenze der Türkei eroberte, wurde die Grenze nicht ausreichend kontrolliert. Militante Aktivist*innen konnten problemlos über die Grenze hin und zurück bewegen und siedelten sich in Grenzprovinzen der Türkei an. „Der IS rekrutierte hier Aktivisten, organisierte sich und ließ hier Verwundete versorgen, die in Kobane die Zivilbevölkerung angriff. Die türkische Regierung habe nichts dagegen unternommen. Der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu sagte über die „IS“-Mitglieder, es handele sich lediglich um zornige, junge Leute.
Wo in der Türkei befinden sich „IS“-Zellen?
In Grenzprovinzen wie Hatay oder Kilis, aber auch in weiter im Inland gelegenen konservativen Städten wie Adıyaman, Elazığ und Konya. Die Attentäter vom 10. Oktober 2015 stammten aus der Zelle in Adıyaman. Der Anführer Mustafa Dokumacılar ist weiter flüchtig. Die Organisation richtete sich dort mit zahlreichen Aktivisten, Vereinen, Firmen, Verstecke, Depots, Waffen und Bomben ein.
Und das ist den Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen?
Bei den Recherchen, die wir als Anwaltskollektiv im Vorfeld der Klage durchführten, erfuhren wir, dass es sich bei den Verdächtigen um Leute handelt, die den staatlichen Behörden bekannt waren und bereits überwacht wurden. Die Staatsanwaltschaft und Polizei griff dennoch nicht ein. Vor dem Anschlag in Ankara von 2015 hatte der „IS“ die Sprengstoffanschläge auf eine HDP-Kundgebung in Diyarbakır, in Suruç, auf HDP-Büros in Mersin und Adana sowie den Anschlag auf die Hochzeit in Gaziantep verübt. Wenn einer dieser Anschläge verhindert worden wäre, hätten die anderen nicht stattgefunden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe