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„Ich musste dafür sorgen, dass meine Stimme auch draußen Gehör findet“, sagt Leyla Güven

„Ich setze meinen Protest fort“

Am 79. Tag ihres Hungerstreiks wurde die HDP-Politikerin Leyla Güven aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben mit ihr über die Haft und ihren Protest gesprochen.

HAYRI DEMIR, 2019-01-28

(Die Fragen, die Leyla Güven einen Tag, bevor sie freigelassen wurde, schriftlich beantwortet hatte, wurden nach ihrer Entlassung aus der Haft durch einige Nachfragen am Telefon ergänzt und aktualisiert, Anm.d.Red.)

taz.gazete: Frau Güven, seit 79 Tagen sind Sie im Hungerstreik. Jetzt kamen Sie nach rund einem Jahr Haft frei. Wie geht es Ihnen damit?

Leyla Güven: Es gab keine rechtliche Grundlage für meine Haft, sie war rein politisch. Wäre man nach rechtlichen Maßstäben vorgegangen, hätte die Freilassung viel früher erfolgen müssen. Ja, es wäre gar nicht erst zur Haft gekommen. Jetzt das Gefängnis zu verlassen, war nicht einfach. Aber auch draußen kann man Widerstand leisten.

Sie fordern mit Ihrem Protest, dass die Isolationshaft von Abdullah Öcalan aufgehoben wird. Wie kam der Beschluss für Ihren Hungerstreik zustande? Warum haben Sie diesen Weg gewählt?

Isolation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Jeder, der sich als Mensch bezeichnet, muss dagegen protestieren. Wenn Sie inhaftiert sind, ist die Auswahl an Protestformen begrenzt. Ich musste dafür sorgen, dass meine Stimme auch draußen Gehör findet. Als ich den Hungerstreik begann, wusste ich, dass die faschistische AKP-MHP-Regierung nicht rasch handeln würde. Uns sind sämtliche Presse- und Medienorgane verschlossen. Derzeit sind in der Türkei alle Protestformen für mich untersagt. Egal, trotz allem ist meine Stimme ja zu euch durchgedrungen.

Warum ist es Ihrer Meinung nach so wichtig, dass Abdullah Öcalan Besuch erhalten kann?

Weil Herr Öcalan die Adresse für eine friedliche, demokratische Lösung ist, die dem sozialen Frieden dient. Diese Forderung stelle ich nicht allein, Millionen Kurd*innen stellen sie. Gemeinsam mit mir sind derzeit 249 Gefangene im Hungerstreik. Öcalan ist der politische Wille der kurdischen Bevölkerung, darum sind seine Gesundheit und Sicherheit so wichtig für die Kurd*innen. Er hat die Existenz der kurdischen Bevölkerung mit seinem Kampf sichtbar gemacht und dafür gesorgt, dass sie heute akzeptiert ist. Unsere Forderung lautet, dass die unmenschliche Isolation unverzüglich aufgehoben wird und Herr Öcalan die Möglichkeit erhält, seine politischen Ansichten über seine Anwält*innen der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Werden Sie Ihren Hungerstreik fortsetzen, nun da Sie aus der Haft entlassen wurden?

Bisher wurde unsere Forderung nicht erfüllt. In meinen Antworten auf die Fragen, die Sie mir ins Gefängnis geschickt hatten, hatte ich betont, dass es sich keineswegs nur um meine Forderung handelt, Millionen fordern dasselbe. Deshalb setze ich meinen Protest fort, bis unsere berechtigte Forderung erfüllt ist.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Heute bin ich seit 79 Tagen im Hungerstreik. Ab dem 50. Tag schwand allmählich meine Energie. Mir setzt zu, dass mein Blutdruck auf einmal ansteigt, dann wieder plötzlich abfällt. Ich habe mit Schwäche, Schwindelanfällen, Magenkrämpfen und Übelkeit, extremer Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen, Geräuschen und Licht zu kämpfen. Mir fällt es schwer, gezuckertes oder gesalzenes Wasser zu mir zu nehmen. Sprechen, Lesen und Schreiben bereitet mir Mühe. Meine Zellengenossinnen halfen mir, meine Antworten auf Ihre in die Haft gesandten Fragen aufzuschreiben. Sie notierten, was ich ihnen diktiert habe.

Obwohl Sie als Abgeordnete ins Parlament gewählt wurden, mussten Sie ein Jahr im Gefängnis sitzen. Bereits im vergangenen Juni wurde Ihre Freilassung angeordnet, dennoch kamen Sie nicht frei. Wie erklären Sie diese Situation?

Ich bin in derselben Lage wie die anderen inhaftierten ehemaligen HDP-Abgeordneten. Unser „Verbrechen“ besteht darin, zu denken, zu reden, die Politik der AKP zu kritisieren. Der einzige Unterschied zwischen den Kolleg*innen und mir ist, dass sie verhaftet wurden, als sie bereits im Parlament saßen, ich dagegen saß im Gefängnis, als ich gewählt wurde. Wenn es nach der Verfassung ginge, müssten die HDP-Abgeordneten freigelassen werden. Jüngst wurde sogar das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zu Selahattin Demirtaş ignoriert. Trotz der Urteile werden unsere Freund*innen und Kolleg*innen mit Auftragsurteilen de facto zu Verurteilten gemacht. Der AKP-Vorsitzende Tayyip Erdoğan greift vor aller Augen in die Gerichtsbarkeit ein.

Unterstützt die HDP Ihren Hungerstreik?

Ich habe meine Partei HDP nicht um ihre Meinung gefragt, als ich in den Hungerstreik getreten bin. Es war mein eigener Beschluss und ich habe ihn im Gerichtssaal verkündet. Damit erfuhren meine Parteigenoss*innen gleichzeitig mit allen anderen davon. Dennoch stellten sich die Ko-Vorsitzenden der Partei Pervin Buldan und Sezai Temelli, die Abgeordneten und sämtliche Parteiorganisationen hinter mich.

Sie sind weiter im Hungerstreik. Inzwischen konnte jedoch nach zwei Jahren Pause Öcalan seinen Bruder Mehmet Öcalan sehen…

Über meine Anwält*innen erfuhr ich, dass Herr Öcalan seinen Bruder Mehmet Öcalan eine Viertelstunde lang sprechen konnte. Das bedeutet ja keineswegs, dass die Isolation aufgehoben ist. Schon 2016 sind 50 kurdische Politiker*innen, auch ich, mit derselben Forderung in den Hungerstreik getreten. Am achten Tag des Protests brachte der Staat Mehmet Öcalan auf die Gefängnisinsel, er durfte Herrn Öcalan besuchen. Daraufhin beendeten wir unseren Hungerstreik. Es stellte sich aber heraus, dass die AKP die Isolation anschließend einfach fortsetzte. Jetzt darf nicht erwartet werden, dass ich und die anderen Gefangenen im Hungerstreik den Protest beenden. Herr Öcalan ist gegen Hungerstreiks, die um seinetwillen durchgeführt werden. Selbstverständlich kann er seinem Bruder gesagt haben: „Sie sollen die Aktion beenden.“ Wir sind aber nicht der Meinung, dass dieser Besuch die Isolation durchbrochen hat, deshalb streiken wir weiter.

Hat man von Regierungsseite Kontakt mit Ihnen aufgenommen?

Bisher hat niemand von der Regierung mit mir gesprochen. Ich habe keinerlei Nachricht oder Information erhalten, auch nicht indirekt.

Haben sich Abgeordnete anderer Parteien im Parlament zu Ihrem Hungerstreik geäußert?

Von der AKP und MHP erwarten wir sowieso nichts, sie halten sich mit Nationalismus auf den Beinen. Die CHP dagegen ist eine Partei, die sich links verortet. Vielleicht ist es gerade diese Partei, die dafür sorgt, dass die AKP-Regierung sich überhaupt halten kann. Sie ignorieren einfach, wie es den Kurd*innen ergeht. Wir waren zwei Abgeordnete in Haft. Die CHP wandte sich nur wegen ihres eigenen Abgeordneten an die Regierung. Als der freikam, tat sie so, als gäbe es da nicht noch jemanden. Ebenso ignorieren sie den Hungerstreik, in dem sich derzeit Hunderte Gefangene befinden.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

HAYRI DEMIR, 2019-01-28
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