In Ekrem İmamoğlu ist Staatspräsident Erdoğan ein echter Kontrahent gewachsen. Die Linken mögen ihn, die Religiösen verschreckt er nicht.
Bis vor wenigen Monaten war Ekrem İmamoğlu ein Bezirksbürgermeister, den niemand kannte. Als seine Kandidatur für das Istanbuler Oberbürgermeisteramt bekanntgegeben wurde, waren alle überrascht, manche auch verärgert. Man hatte erwartet, dass gegen das rührige AKP-Schwergewicht Binali Yıldırım eine bekanntere Person für die größte Oppositionspartei des Landes antreten würde. Aber in den vergangenen Wochen stellte sich heraus, dass İmamoğlu genau die richtige Wahl war.
Seit der Gründung der Republik Türkei dreht sich die Politik des Landes um den Konflikt zwischen religiöser und säkularer Weltanschauung. Während die kemalistische CHP als Hüterin des Atatürk-Erbes lange Zeit die Religion von der Politik fernzuhalten versuchte, regierte seit 2002 die AKP als Repräsentantin des politischen Islam das Land. Gemeinsam ist den beiden Achsen ihr Nationalismus. Die Parteien scheuen sich, Diskurse und Politiken außerhalb dieser schablonisierten Achsen zu entwickeln, weil sie fürchten, zu verlieren, was sie bereits in Händen halten.
Zu İmamoğlus größten Erfolgen gehört es, gezeigt zu haben, dass man es auch mit einer Politik schaffen kann, die nicht in diesen miteinander verzahnten Achsen gefangen ist. Damit setzte sich İmamoğlu auch von Muharrem İnce ab, der 2018 mit Erdoğan um die Präsidentschaft konkurrierte. İnce hatte versucht, dieselbe polarisierende Sprache wie Erdoğan zu sprechen, und war damit gescheitert.
İmamoğlu hingegen stand Erdoğans Porträt eines zornigen, unversöhnlichen, konservativen Mannes als ein geduldiger Mensch gegenüber: entschlossen, aber ohne sich von Wut und Zorn übermannen zu lassen, versöhnlich, mit sich selbst im Reinen und fähig, seine Herkunftskultur auszuleben, ohne sie bärbeißig verteidigen zu müssen. Nach seiner Ernennung stattete İmamoğlu Erdoğan einen Besuch im Präsidentenpalast ab. Die oppositionelle Öffentlichkeit hielt das für überflüssig. Doch war es der kürzeste Weg, sich den AKP-Wähler*innen vorzustellen.
Als die Kommunalwahlen näherrückten, schickte Erdoğan die Kandidat*innen der Istanbuler Bezirke und auch Binali Yıldırım in die zweite Reihe und trat persönlich vor die Bürger*innen. Er schöpfte das Budget und die Infrastruktur der Kommune Istanbul sowie der Regierung in Ankara aus und trat etliche Male in Istanbul auf. Bei seinen Reden attackierte er seine Gegner harsch, er wirkte wütend, besorgt, hart und unerreichbar.
Ekrem İmamoğlu dagegen stellte sich nicht auf Massenveranstaltungen ans Rednerpult, sondern wanderte durch die Straßen. Mehr noch als in Vierteln, die der CHP als sicher galten, sprach er mit Menschen in AKP-Quartieren. Hier war er mit Terrorvorwürfen konfrontiert: Die AKP-Regierung hatte die CHP im Wahlkampf immer wieder als Terrorunterstützer gebrandmarkt, die mit der kurdisch-linken HDP eine geheime Allianz gebildet habe. İmamoğlu diskutierte mit den Leuten geduldig darüber, warum die HDP keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte, um die CHP zu unterstützen. Er wurde dabei nie laut, schaute den Menschen beim Sprechen in die Augen und nahm ihre Hände. Er hörte ihnen zu, ließ sich von ihren Problemen erzählen, entwickelte Vorschläge, die Lösungen versprachen. Das größte Problem vieler Menschen ist derzeit die wirtschaftliche Rezession, die mit hoher Inflationsrate und Arbeitslosigkeit einhergeht.
Vom gewohnten kemalistisch-laizistischen CHP-Profil weicht İmamoğlu erheblich ab. Wo und wie hatte er seine politische Persona gebildet?
Vor 48 Jahren wurde Ekrem İmamoğlu in der nordtürkischen Schwarzmeerregion geboren, genau wie Erdoğan. Sein Vater Hasan İmamoğlu baute Tabak an und war zugleich als Großhändler für Baumaterial tätig. Später gründete er in Istanbul ein Bauunternehmen. Sein Sohn Ekrem schloss zunächst ein Studium der Betriebswirtschaft ab und übernahm anschließend das Familienunternehmen. Vom Vater, der es vor 1980 mit der rechtsextremen MHP hielt, dann aber zur mitte-rechts-ausgerichteten ANAP ging, übernahm der Sohn die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen, gestaltete sie aber nach eigener Façon. Wie Erdoğan liebt İmamoğlu Fußball, unterstützte aber keinen Istanbuler Verein, sondern Trabzonspor. Dort saß er auch im Vorstand. Nach einer kurzen Phase politischer Aktivität bei der ANAP wechselte er zur CHP.
2014 wurde İmamoğlu zum Bürgermeister des Bezirks Beylikdüzü im Istanbuler Südwesten gewählt, einer breiteren Öffentlichkeit wurde er jedoch erst vor den Kommunalwahlen am 31. März bekannt. In den sozialen Medien tauchte ein Bild auf, das ihn am 1. Mai 2013 in der Menge Protestierender zeigt, die von der Polizei mit Tränengas attackiert wird. Das war eine Szene, mit der sich viele junge Linke identifizieren konnten.
Dann gab es Fotos aus einer Moschee, wo er die bekannte Sure Yasin rezitierte, und zwar wie ein Profi. Diese Bilder milderten die streng säkulare Haltung der CHP ab. Aus der AKP-Führung kam sofort die Kritik, İmamoğlu würde die Religion für seine Politik instrumentalisieren. Doch Menschen, die gefürchtet hatten, ihrer religiösen Freiheiten beraubt zu werden, wenn die AKP abtritt, waren durch die Fotos beruhigt. Diese Haltung veranlasste junge Religiöse, die eigentlich zu Hause bleiben wollten, um ihre Stimme nicht der AKP zu geben, doch zur Wahl zu gehen.
Am Wahlabend zeigte sich dann, auf welch starke Partei-Organisation İmamoğlu sich stützen kann, angeführt von der Istanbuler CHP-Provinz-Vorsitzenden Canan Kaftancıoğlu. İmamoğlu ist also keine vorübergehende Ausnahmeerscheinung in der CHP, vielmehr hatte man ihn auserkoren, das Team zu repräsentieren, das die Zukunft der Partei gestalten soll. An dem Abend, an dem ihm auf Beschluss der Hohen Wahlkommission sein Bürgermeisteramt genommen wurde, saß er in einem Privathaushalt in Sultanbeyli, einer AKP-Hochburg, beim Fastenbrechen.
Trotz des Unrechts, das ihm angetan wurde, gerierte er sich nicht als Opfer. Es wäre auch ein massiver Fehler gewesen, sich vor Erdoğan, der das Monopol auf Frömmigkeit und Opferidentität hält, seine Partei als Opfer hinzustellen. İmamoğlu war eines klar: Man darf nicht dieselbe Sprache sprechen wie eine politische Gruppe, die ihre Opferhaltung selbst nach 17 Regierungsjahren nicht ablegt und ihren vermeintlichen Opferstatus bei allen heiklen Beschlüssen und Diskursen stets für ihre Legitimierung benutzt. Gemeinsamer Nenner der Mobilisierung, die er nicht nur in Istanbul, sondern in der gesamten Türkei auf die Beine gestellt hatte, war der Kampf für Recht, Gerechtigkeit und Demokratie.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe