In einem Bezirk von Diyarbakır hat die AKP einen gewählten Bürgermeister absetzen lassen. Keine gute Nachricht für Arbeitslose.
In der brütenden Julihitze von Diyarbakır stapelt Serhat Kaya* Früchte in einen Korb und wischt sich zwischendurch mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Der 32-Jährige hat ein Diplom in Internationalen Beziehungen, doch er arbeitet zum Mindestlohn in einem kleinen Supermarkt. Diese Arbeit hat er angenommen, nachdem er jahrelang arbeitslos gewesen war. „Meine Frau ist Beamtin, wir kommen grade so über die Runden“, sagt Kaya. Die landesweit kriselnde Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit sind im südosttürkischen Diyarbakır mit voller Wucht zu spüren.
Kaya lebt in Bağlar, einem ehemaligen Gecekondu-Viertel in Diyarbakır, in dem die Arbeitslosenrate weit über dem landesweiten Durchschnitt von 14 Prozent liegt. In Bağlar leben mehr als 400.000 Menschen. Damit ist dieser Bezirk Diyarbakırs bevölkerungsreicher als die 36 kleinsten der 81 türkischen Provinzen. Als in den 1990er Jahren im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der PKK Sicherheitskräfte Dörfer niederbrannten und die Bewohner*innen ganzer Regionen zur Flucht zwangen, war Bağlar ein wichtiges Ziel der Binnenmigrant*innen.
Doch 2016 kam der Krieg mitten in die Stadt. Der Altstadtbezirk Sur grenzt unmittelbar an Bağlar an. Infolge der Gefechte zwischen kurdischen Jugendlichen und Sicherheitskräften wurde die Altstadt fast komplett eingeäschert. Was heute an Baubestand noch da ist, wurde vom Staat enteignet. Wieder flohen die Menschen aus Sur vor den traumatischen Kriegshandlungen ins benachbarte Bağlar. Die Kriegsflüchtlinge aus der eigenen Stadt fanden sich in einem Bezirk mit ohnehin schon hoher Arbeitslosigkeit wieder. Es gibt in Bağlar eine Kreuzung, an der den ganzen Tag über Arbeitssuchende jeden Alters auf den Bürgersteigen stehen und warten, oft mit eigenen Spaten und Spitzhacken. Aber viel Arbeit gibt es nicht.
Entsprechend war die lokale Arbeitslosigkeit ein heißes Wahlkampfthema vor den Kommunalwahlen im März. Die in den kurdischen Bezirken im Südosten des Landes weit vorne liegende HDP machte im Wahlkampf viele Versprechen, um die Arbeitslosigkeit auf lokaler Ebene zu bekämpfen. Eines davon war, einen Teil der Arbeiter*innen wieder einzustellen, die nach dem Putschversuch 2016 wegen angeblicher „Sicherheitsbedenken“ per Notstandsdekret entlassen werden mussten. In Bağlar ging es konkret um 255 Mitarbeiter*innen von Privatfirmen, an die das Bezirksamt Verträge vergeben hatte. In fast 100 Fällen hatte das Verwaltungsgericht Diyarbakır im April entschieden, dass ihre Kündigung nicht rechtens war.
In Bağlar holte die HDP 70 Prozent der Stimmen. Doch während Staatspräsident Erdoğan nichts unversucht ließ, den gewählten Bürgermeister in Istanbul, Ekrem İmamoğlu, an seiner Amtsausübung zu hindern, wandte sich auch der AKP-Kandidat von Bağlar, Hüseyin Beyoğlu, im April an die türkische Wahlkommission. Er forderte, Bürgermeister anstelle des gewählten Bürgermeisters zu werden.
Seine Begründung: Der HDP-Kandidat Zeyyat Ceylan sei als Lehrer infolge eines der vielen Notstandsdekrete aus dem Schuldienst entlassen worden und daher nicht für ein öffentliches Amt geeignet. Die Wahlkommission gab ihm Recht. Damit bleiben auch die Versprechen der HDP, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, unerfüllt.
Anfang Mai suchte die Bezirksverwaltung von Bağlar in der kurdischen Millionenstadt Diyarbakır per Anzeige neue Mitarbeiter*innen. Die Anzeige war nur einen Tag online. Trotzdem bewarben sich auf die 180 ausgeschriebenen Stellen sofort über 2.000 Personen. Einer von ihnen war der diplomierte Supermarktangestellte Serhat Kaya. Durch Zufall sah er die Anzeige im Internet, nahm sich sofort frei im Supermarkt und brachte seine Bewerbungsunterlagen zum Bezirksamt.
Ziemlich aufgeregt sei er gewesen, erzählt Kaya. Als er zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, traf er auf lange Schlangen vor dem Rathaus. Während er anstand, lauschte er den Gesprächen der Bewerber*innen, die aus den Interviews kamen, denn er wollte wissen, mit was für Fragen er zu rechnen habe: „Nennen Sie das Geburtsdatum von Recep Tayyip Erdoğan. Was denken Sie über den Putsch vom 15. Juli 2016?“
Kaya musste fünf Stunden vor dem Rathaus von Bağlar warten, bis er aufgerufen wurde. Sein Bewerbungsgespräch dauerte genau zwei Minuten. „Sie fragten mich zu den S400-Raketen, die die Türkei von Russland gekauft hat. Mir war klar, dass ich diplomatisch antworten musste. Ich sagte also, die Türkei braucht zu ihrer eigenen Verteidigung die S400“, sagt er. „Daraufhin fragten sie: Bist du Kurde oder bist du Zaza? Sie fragten mich, ob ich die verschiedenen Dialekte des Kurdischen beherrsche. Dann wurde ich aus dem Zimmer geschickt.“ Genommen wurde Kaya nicht.
Der Leiter der Auswahlkommission, Muhammed Akar, erklärt auf Nachfrage von taz gazete, die Fragen für die Gespräche seien der zentralen Datenbank für die Beamtenprüfung entnommen worden. Allerdings habe er selbst auch Fragen zu den S400-Raketen und zur türkischen Außenpolitik gestellt. Eigentlich hatte der von der Wahlkommission als Bürgermeister eingesetzte Hüseyin Beyoğlu noch im Juni angekündigt, dass sämtliche 180 Stellen mit in Bağlar lebenden Arbeitslosen besetzt werden sollen.
Sein Stellvertreter Akar schätzt die Arbeitslosigkeit im Bezirk auf 65 Prozent. Dennoch räumt er ein, dass nur 40 Prozent der Neueingestellten aus Bağlar kämen. „Unter den erfolgreichen Bewerbern sind vereinzelt auch AKP-Mitglieder, die in anderen Bezirken leben“, sagt er und fügt hinzu: „Wir sind das einzige AKP-geführte Bezirksamt im Zentrum. Deshalb kommen alle zu uns, um sich zu bewerben.“
Auch die direkt beim Bezirksamt Angestellten, die damals gehen mussten, warten nach wie vor darauf, in den öffentlichen Dienst zurückkehren zu dürfen. Eine von ihnen ist die Köchin Remziye Şengüner. Sie lebt seit 1994 in Bağlar. Nachdem ihr Dorf niedergebrannt wurde, kam sie mit ihrer Familie hierher. Bis vor kurzem kochte sie im Frauenzentrum Kardelen. Das Zufluchtshaus wird vom Bezirksamt betrieben. Nach dem Putschversuch wurde sie bei einem Sicherheitscheck ausgesiebt und entlassen. Jetzt muss sie für Mindestlohn in der Kantine einer Fabrik im Industriegebiet.
Doch gerade jetzt, wo die Arbeitslosigkeit steigt, sind viele Privatfirmen bei den Lohnzahlungen bis zu vier Monate im Rückstand. Remziye Şengüner hat eigentlich längst vor Gericht das Recht erstritten, an ihre alte Stelle zurückzukehren. Doch die neu konstituierte Verwaltung wolle eine weitere Sicherheitsüberprüfung durchführen und habe eine Auflistung der Wohnadressen ihrer Eltern und Geschwister angefordert. „Unrecht tut weh. Vermutlich brauchen auch die neu Eingestellten ihre Jobs, aber dass sie uns feuern und andere einstellen macht uns traurig. Ich will meine Stelle beim Bezirksamt zurück.“
Die HDP hat eine Untersuchungskommission zu den Vorgängen im Bezirksamt Bağlar gebildet. Deren Vorsitzender Veysi Kuzu zeigt taz gazete an einem Tisch im Teegarten eine Liste mit den Namen der neu eingestellten Personen. Kuzu hat sich die Wohnsitze und Social-Media-Profile der erfolgreichen Bewerber*innen einzeln angeschaut. Nur wenige von ihnen seien überhaupt in Bağlar gemeldet, die meisten hingegen teilen gerne AKP-Content.
Unter ihnen befinden sich Funktionärinnen der Frauenorganisation der AKP und solche der extrem nationalistischen MHP, mit der die AKP koaliert. Obwohl die HDP in der Bezirksversammlung Bağlar die absolute Mehrheit stellt, hat sie kaum etwas zu sagen. Wichtige Fragen wie Personaleinstellung und Ausschreibungsvergabe kann der Bürgermeister ohnehin allein entscheiden.
Serhat Kaya überrascht es nicht, dass die meisten seiner erfolgreichen Mitbewerber*innen außerhalb von Bağlar leben. Die Praxis, Stellen nach Loyalität statt Eignung zu vergeben, sei mittlerweile fest etabliert. „Es hätte zu viel Aufsehen erregt, alle neuen Mitarbeiter*innen ohne öffentliches Verfahren einzustellen“, sagt er ruhig, die Hände in die Taschen seiner Supermarkt-Uniform gestopft. „Daher brauchte man pro forma diesen Prozess. Die Auswahlkommission hat aber schon deutlich gemacht, dass sie die Gespräche einfach möglichst schnell hinter sich bringen will.“ Trotzdem würde Kaya sich ohne Zögern bewerben, wenn wieder eine Stelle ausgeschrieben wird. Doch jetzt muss er zurück an seine Arbeit. Bis 22 Uhr muss er noch Regale einräumen.
*Name von der Redaktion geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny