Ein Jahr nach dem NSU-Prozess sprachen Angehörige von Opfern am Wochenende bei „Das bleibt!“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Vor einem Jahr wurde die NSU-Akte in München zugeklappt. Fall gelöst, Täter bestraft – so sieht es die Staatsanwaltschaft. Für die Angehörigen der Opfer ist gar nichts abgeschlossen. Am Wochenende saßen drei von ihnen auf der Bühne im Haus der Kulturen der Welt: Adile Şimşek und Semiya Şimşek, Witwe und Tochter des im Jahr 2000 ermordeten Enver Şimşek. Und Elif Kubaşik, Witwe des im Jahr 2006 getöteten Mehmet Kubaşik. Ihm Rahmen der Veranstaltung „Das bleibt!“ erzählten sie.
Zum Beispiel davon, wie beide Ehefrauen an den Tagen nach den Morden ihrer Ehemänner zu stundenlangen Verhören vorgeladen wurden. Oder davon, wie der Richter bei der Urteilsverkündung in München im Juli 2018 kein Wort an die Hinterbliebenen richtete. Und darüber, wie vor allem die Frauen – Witwen, Töchter, Schwestern – ihre Familien nach den Morden zusammengehalten und für die Aufklärung der Morde gekämpft haben.
„Warum mein Vater? Nach welchen Kriterien haben sie ihn ausgewählt?“, fragte Semiya Şimşek in den großen Saal. Die Geschichte der NSU-Ermittlungen ist auch die Geschichte von ignorierten Hinweisen. Bis 2011 ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass die Morde mit einer türkischen Mafia in Verbindung stünden. Adile Şimşek erzählte, wie sie während der Ermittlungen dreimal darauf hingewiesen hatte, dass sie hinter den Morden Nazis vermute. Dreimal wurde sie nicht gehört.
Nach diesen Berichten am Freitag folgten bei „Das bleibt!“ am Samstag die „NSU-Monologe“. Zwei Schauspielerinnen der Bühne für Menschenrechte trugen die Lebensgeschichten vor, die Kubaşik und Şimşek zu Protokoll gegeben hatten: von der Liebe zu ihren Männern, dem Stolz auf das eigene Geschäft und der Enttäuschung über den deutschen Rechtsstaat.
Der Saal war dabei schon deutlich weniger voll als am Tag davor. Aber, sagte die Programmleiterin Ayşe Gümeç, „die, die gekommen sind, sind gekommen, um wirklich zuzuhören“. Und zuhören, das heiße auch, sich mit dem Schmerz anderer zu verbinden.
Zuhören, das heißt auch, erinnert werden. Zum Beispiel an den rassistischen Brandanschlag in Mölln 1992. Der Überlebende Ibrahim Arslan erzählte am Samstagnachmittag bei einem Workshop – die ursprünglich vier geplanten mussten wegen zu wenigen Besucher*innen zu zwei Workshops zusammengelegt werden –, wie seine Familie jahrelang aus der städtischen Gedenkfeier ausgeschlossen wurde. Bis heute finden in Mölln zwei Gedenkveranstaltungen statt: eine von der Stadt Mölln organisiert, und eine Mahnwache vor dem Haus des Anschlags, organisiert von der Familie Arslan.
Im anderen Workshop berichtete Mouctar Bah, Mitglied der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, wie die Polizei bis heute eine Aufklärung des Todes von Jalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte, verhindert.
Ob sie jetzt, ein Jahr nach Ende des Prozesses, Abstand gewinnen könne, wurde Semiya Şimşek am Freitag auf dem Podium gefragt. „Wie sollen wir Abstand gewinnen, wenn wir in den Medien von dem Mord an Walter Lübcke erfahren und unsere Anwältin Drohbriefe von NSU 2.0 bekommt?“