Figen Yüksekdağ, ehemals Co-Vorsitzende der HDP, über Angriffe auf ihre Partei, Zwangsverwaltungen und Parteigründungen ehemaliger AKP-Politiker.
taz.gazete: Frau Yüksekdağ, wie sind die Haftbedingungen in Ihrem Gefängnis?
Figen Yüksekdağ: In letzter Zeit kommt es in der Türkei immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Die Vorfälle machen klar, wie schlecht die Haftbedingungen sind. Das wirkt sich auch auf meine Haft aus. Manchmal bekomme ich wegen der Verleumdungen und Anfeindungen der Regierung meiner Partei gegenüber besonders viel ab.
Wie zeigt sich das in Ihrem Fall konkret?
Manchmal gibt es Provokationen der Vollzugsbeamten, die entweder dazu gedrängt werden oder provozieren, weil sie selbst auf Regierungslinie sind. Oder es kommt zu sogenannten „Sonderbehandlungen“. Bevor ich und andere aus der Partei verhaftet worden sind, hieß es noch: „Was haben die im Parlament verloren? Die sollten ins Gefängnis“. Jetzt denken manche: „Was haben die im Gefängnis verloren? Die sollten ins Grab.“
Wieso steht die HDP so sehr unter dem Beschuss der Regierung?
Die politische Repression ist vielschichtig und ernst zu nehmen. In den vergangenen drei Jahren wurden rund 10.000 HDP-Mitglieder verhaftet. Es gibt fast keine freien Menschen mehr in der Partei, und politische Rechte, die ohnehin schon prekär waren, wurden vollends liquidiert. Für die Regierenden ist das ein alternatives Mittel der Druckausübung, bei der sie nicht gleich die Partei verbieten müssen. Sie wollten, dass die HDP Verluste erleidet. Aber das ganze Land hat dadurch verloren. Und sie selbst haben nicht gewonnen. Bei den vergangenen Kommunalwahlen hat sich gezeigt, dass die Regierung und Erdoğan die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit verloren haben. Sie haben sich vollständig vom Boden des Demokratischen entfernt, sie akzeptieren die Niederlage nicht und versuchen den Schmerz mit Repression gegen die HDP und HDP-Wähler*innen zu kompensieren. Dass Städte unter Zwangsverwaltungen gestellt werden, dass Co-Bürgermeister*innen unrechtmäßig und ohne Beweise verhaftet werden, ist ein Resultat dieser Intoleranz. Allein die Existenz der HDP gilt dieser Regierung als Bedrohung.
Sie waren drei Jahre lang Co-Vorsitzende der HDP. Wieso stört sich die Regierung daran, dass Ihre Partei Co-Vorsitzende hat, also jeweils eine Frau und einen Mann an der Spitze?
Weil dieses System einen radikalen Widerspruch zu dem bestehenden Regierungssystem und eine konkrete Alternative darstellt. Für repressive, faschistische, patriarchale und religiös-regressive Politik stellt so ein Modell ein Problem dar. Dass es bei der HDP immer zwei Vorsitzende gibt, eine Frau und einen Mann, ist ein Hoffnungsschimmer, ein Schritt, der die gesellschaftliche Stellung der Frau gestärkt hat. Millionen von Frauen können sich mit dieser egalitären Form der Repräsentation identifizieren. In der Welt der Frauen ist es ein Symbol für einen großen politischen Aufbruch. Die gegenwärtig Regierenden und jene, die mit ihnen ideologisch übereinstimmen, wollen die Macht der Frauen, die sich in den Reihen der HDP entfaltet hat, ausradieren.
Es wird derzeit darüber diskutiert, ob sich die HDP wegen der Repressionen aus dem Parlament zurückziehen sollte.
Die Partei hat mit der Bevölkerung und in den eigenen verantwortlichen Gremien diskutiert und sich dafür entschieden, alle Posten, die sie durch Wahlen erhalten hat, weiterhin zu besetzen. Eine Diskussion darüber, ob man sich aus dem Parlament zurückzieht, findet deshalb nicht mehr statt. Wir wollen die Wirkung unseres politischen Kampfes an den Orten unserer täglichen Arbeit, in den Stadtverwaltungen und im Parlament verstärken. Diejenigen, die uns auf kommunaler und nationaler Ebene aus der Politik haben wollen, sollten sich einmal überlegen, was sie verlieren würden, wenn die HDP nicht mehr da wäre.
Aber was können Ihre Wähler*innen in der gegenwärtigen Situation erwarten?
Die Bevölkerung selbst ist entschiedener als die HDP, die Menschen sind wirkmächtig. Aber sie erwarten eine Führung, die ihre Forderungen lautstark artikuliert. Trotz des gewaltigen Ausmaßes an Diskriminierung gegenüber Kurd*innen und der HDP ist eins klar geworden: Diejenigen, die gegen Erdoğan gewinnen wollen, müssen zuerst die Kurd*innen und die HDP für sich gewinnen. Die HDP muss sich von den Parteien der Mitte unterscheiden, zuverlässig sein und die Demokratie für alle ins Zentrum rücken. Die HDP möchte den Kurdenkonflikt lösen, aber auch alle anderen Probleme, die von der AKP und den Zentrumsparteien ignoriert oder verschärft werden.
Der ehemalige AKP-Wirtschaftsminister Ali Babacan und Ahmet Davutoğlu, der ehemalige Ministerpräsident der AKP, arbeiten an eigenen Parteiprojekten. Können diese Neugründungen aus der AKP heraus eine Alternative zur gegenwärtigen Regierung werden?
Wenn neue Parteien auf Basis alter Geisteshaltungen gegründet werden, können sie keine Alternativen sein. Die Türkei braucht eine Veränderung der Geisteshaltung. Die Demokratie muss neu geschaffen werden; das Land braucht eine neue Verfassung, die universelle Rechte und Freiheiten beinhaltet. Beide Parteigründer haben keine Erzählung oder kein Programm dafür, wie solch drängende Probleme wie die Kurdenfrage geklärt werden können. Im Gegenteil: Beide ehemaligen AKP-Politiker sind mitverantwortlich für die gegenwärtigen Probleme. Man hätte erwartet, dass sie selbstkritisch hinterfragen, wie sie das heutige Regierungsmonster mitgeschaffen haben. Es gab keine Selbstkritik.
Was ist dann das Ziel dieser Neugründungen?
Beide Politiker verfolgen einen Weg, der auf grobe politische Arithmetik beschränkt ist, bei dem es nur um die Frage geht, wie man AKP-Wähler*innen und Politiker*innen für die eigene Partei gewinnen kann. Eine Alternative zur AKP kann nicht aus der AKP heraus entstehen, sie kann keine alte oder neue Version der AKP sein. Es gibt einen anderen Weg. Und als Alternative zur Regierung muss man diesen anderen Weg mit Entschiedenheit verfolgen.
Anmerkung der Redaktion: Weil sich Figen Yüksekdağ seit dem 5. November 2016 in der nordwesttürkischen Stadt Kocaeli in Haft befindet, wurde das Interview schriftlich geführt.
Aus dem Türkischen von Volkan Ağar