Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.

Lesen Sie mehr unter
taz.atavist.com/istanbul-flughafen

Der Kanal Istanbul soll entlang der Sazlıdere-Talsperre verlaufen

Das Land ihrer Spekulationen

Der umstrittene Kanal Istanbul ruft in der türkischen Bevölkerung Widerstand hervor. Die Makler verkaufen derweil Grundstücke am zukünftigen Ufer des Kanals.

ORHAN ESEN, 2020-01-20

“Das hier ist nichts für Sie,“ sagt Murat Özçelik zu Sedat Atalay. Atalay ist Lehrer und auf der Suche nach einem Grundstück, wo er sich später in seiner Rente in Ruhe der Gartenarbeit widmen kann; Özçelik ist Makler und verkauft Grundstücke in der Umgebung der Sazlıdere-Talsperre, an der entlang der Kanal Istanbul verlaufen soll. Dass der umstrittene Kanal Istanbul wieder an Brisanz gewonnen hat und somit auch die Grundstückspreise gestiegen sind, ist für ihn eine glückliche Fügung. Sein Büro liegt in Kayabaşı, einer Ortschaft östlich von Sazlıdere.

Im vorderen Teil des Büros hängt ein riesiger Stadtplan von Yenişehir, auf Deutsch: Neustadt. Die Vorstellungen über die zukünftige Einwohnerzahl dieser Planstadt schwanken zwischen 500.000 und 2 Millionen, manche sprechen sogar von 7 Millionen. Entstehen soll diese Stadt an den Ufern eines geplanten Kanals von 45 Kilometern Länge, 350 Metern Breite und 21 Metern Tiefe, der die thrakische Halbinsel zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer durchqueren soll und somit die Istanbuler Altstadt zu einer Insel werden lassen würde.

Hinter Özçeliks Schreibtisch füllt die New Yorker Skyline bei Nacht die komplette Wand, vor der ein stattliches Porträt von Recep Tayyip Erdoğan und ein riesiger Fernseher hängen. Ein perfektes Setting um den Kun­d*in­nen den Werbefilm über den Kanal Istanbul zu zeigen. Denn Murat Özçelik weiß, welche Grundstücke eine Zukunft haben. Mit einem Zwinkern und einem wissenden Lächeln auf den Lippen gibt er Atalay einen Tipp: “Wenn Sie mich fragen, dann kaufen Sie in Çatalca. Hier gibt es nicht mehr viel zu holen. Die Zukunft liegt in Çatalca.“

Foto: Vedat Arık
Die Dörfer von Çatalca

Nach den Vorstellungen des Maklers wird die neu gegründete Stadt rund um den Kanal eines Tages bis zum 40 Kilometer entfernten Çatalca wachsen. Und wenn dem so wäre, könnte Sedat Atalay seinen Ruhestand genießen und gleichzeitig seinen Kindern ein Grundstück mit steigendem Wert hinterlassen. Eines Tages werde die Gegend um Sazlıdere eine riesige Stadt mit Wolkenkratzern, Shopping-Centern und Autobahnen sein, erklärt Özçelik mit großer Überzeugung. Deswegen sei das hier auch nicht das Richtige für den Ruhestand des Lehrers.

Nichtssagende Spekulationen

In der Hochglanzbroschüre, die überall in Stapeln ausgelegt ist, steht auf der dritten Seite in großen Buchstaben: “Wussten Sie schon, dass mit dem Beschluss Nummer 2014/6048, der am 30. April 2014 im Amtsblatt bekannt gegeben wurde, die Agrarflächen zur Bebauung freigegeben wurden?“ Ein Foto dieses Beschlusses ist ebenfalls in der Broschüre abgedruckt. Die Unterschriften unter dem Gesetzestext stammen von dem damaligen Präsidenten Abdullah Gül, Recep Tayyip Edoğan, damals noch Ministerpräsident sowie dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Ali Babacan, der gerade damit beschäftigt ist, eine neue Partei zu gründen.

Die erste offizielle Erklärung zum Bau eines künstlichen Kanals westlich des Bosporus kam von Erdoğan höchstpersönlich, und zwar schon im April 2011. Damals bezeichnete er das in seinen eigenen Worten „verrückte Projekt“ als seinen “größten Traum“, mit dem nicht nur der Schiffsverkehr auf dem Bosporus verringert werden, sondern auch die damit verbundene Unfallgefahr auf ein Minimum reduziert werden sollte. Nach Angaben der Küstenwache ist jedoch die Anzahl der Durchfahrten in den vergangenen zwölf Jahren um mehr als ein Viertel gesunken. 2018 haben 41.000 Schiffe den Bosporus durchquert, 2006 waren es noch 54.000.

Foto: Vedat Arık
„Wohnungen, Bauland und Äcker mit Blick auf den Kanal Istanbul verfügbar“, wirbt dieses Maklerbüro

Gemäß dem Meerengen-Abkommen von 1936 sollen Schiffe den Bosporus kostengünstig passieren können. Warum also sollten Schiffe durch einen neu gebauten und engen Kanal fahren, der dazu noch mehr Geld kostet? Trotzdem geht der Verkehrsminister Mehmet Cahit Turhan davon aus, dass der Schiffsverkehr auf dem Kanal Istanbul einen jährlichen Gewinn von mehr als einer Milliarde Dollar bringen würde. Kürzlich deutete er in einer Presseerklärung sogar an, dass der Gewinn auf bis zu fünf Milliarden Dollar steigen könnte, wenn mehr als 50.000 Schiffe den Kanal jährlich passieren würden.

Doch eigentlich sind diese Spekulationen über den Gewinn eines Bauvorhabens nichtssagend, wenn dessen Kosten noch nicht einmal feststehen. Im Bericht der Umweltverträglichkeitsprüfung werden 12,7 Milliarden Dollar angesetzt, das Verkehrsministerium spricht von 20 Milliarden und der Verkehrsminister selbst von 25 Milliarden.

Ein postmodernes Disneyland

Dass trotz all dieser Ungewissheiten bereits Grundstücke in der Gegend verkauft werden, erweckt Zweifel, ob der Kanal Istanbul wirklich für den Schiffsverkehr gebaut werden soll oder ob es nicht eigentlich darum geht, neues Bauland zu schaffen.So wird auch im offiziellen Werbefilm des Bauvorhabens die Geschichte eines Immobilienprojekts erzählt. Auch die Werbefilme anderer Firmen zeichnen kein Bild von einem internationalen Infrastrukturprojekt, sondern zeigen ein postmodernes Disneyland mit einem dekorativen Kanal.

Dass die Region für die Bebauung erschlossen werden kann, wurde im August 2012 vom türkischen Kabinett beschlossen. Durch den Beschluss wurde eine Fläche von 32.500 Hektar nordwestlich von Istanbul zu einem “städtischen Entwicklungsraum für Katastrophenschutz“ erklärt. Von einem „Kanal Istanbul“ war in dem Beschluss keine Rede. Die Überarbeitung von 2014 zielte weniger auf die Vergrößerung des Katastrophenschutzgebiets ab als auf die Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen zu Bauland.

Die Istanbuler Stadtverwaltung wurde nicht in die Planung einbezogen. Zugleich widerspricht dieser Beschluss dem Umweltplan der Stadt von 2008, der die Region als Trinkwasser- und Naturschutzgebiet sowie für die landwirtschaftliche Nutzung und ländliche Besiedlung vorsieht.

Foto: Vedat Arık
Das Viertel Yarımburgaz am Küçükçekmece-See

Daten des Türkischen Instituts für Datenverarbeitung Tuvimer an der Yıldız Teknik Üniversitesi zeigen den Umfang der Bauvorhaben auf. Laut einer Untersuchung von Tuvimer haben sich die zum Verkauf stehenden Grundstücke, die sich auf den Wasserreservegebieten befinden, zwischen 2014 und 2016 verdoppelt. So wurden 2014 rund 59.000 Grundstücke zum Verkauf angeboten, 2016 waren es knapp 125.000. Laut der Studie besaßen die Grundstücke in den Wasserschutzgebieten, die zum Verkauf angeboten wurden, 2014 ein Handelsvolumen von knapp neun Milliarden Dollar. 2016 stieg dieser Wert auf knapp 25 Milliarden Dollar.

Informationen über den Umfang und den Ursprung dieser Investitionen zu bekommen, ist nicht einfach. Nachdem die Istanbuler Stadtverwaltung im Dezember die Besitzverhältnisse in der Region offengelegt hatte, muss man nun nach einer Intervention des Katasteramts eine Erlaubnis vom Ministerium einholen, um Informationen zu einem Grundstück zu bekommen.

Mehr als 100.000 Istanbuler legen Beschwerde ein

Glaubt man Murat Özçelik, dann sind die Grundstückspreise in den vergangenen zehn Jahren immer dann nach oben gegangen, wenn Erdoğan über sein „verrücktes Projekt“, den Kanal Istanbul gesprochen hat. “Ich glaube an Erdoğan und der hält sein Wort“, sagt er und lächelt. Dann erzählt er, dass auch schon einige Erdoğan-Gegner bei ihm Grundstücke gekauft hätten. Seine Unterstützung für Erdoğan erklärt Özçelik mit seinem Glauben, dass durch den Kanalbau die Wirtschaft angekurbelt werde.

Der Kanal Istanbul ruft in der Bevölkerung weit mehr Widerstand hervor als frühere Projekte der AKP wie der dritte Flughafen und die dritte Bosporusbrücke, die trotz großer Proteste verwirklicht wurden. Mehr als 100.000 Bür­ge­r*in­nen standen Ende Dezember vor den zuständigen Behörden des Ministeriums für Umwelt und Stadtentwicklung Schlange, um gegen den Bericht der Umweltverträglichkeitsprüfung Beschwerde einzureichen.

Foto: Vedat Arık
Ende Dezember standen Menschen in Istanbul Schlange, um Widerspruch gegen den Kanalbau einzulegen

Auch die Istanbuler Regierung, die seit den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr in den Händen der Opposition ist, hat Ende 2019 eine Kooperationsvereinbarung mit dem Ministerium aufgekündigt. Oberbürgermeister İmamoğlu hat sogar ein Referendum über das Projekt vorgeschlagen. Auf einer Konferenz der Istanbuler Stadtverwaltung mit mehr als 3.500 Teil­neh­me­r*in­nen diskutierten am 10. Januar Wirt­schafts­wis­sen­schaft­le­r*in­nen, In­ge­nieu­r*in­nen und Op­po­si­ti­ons­-­Po­li­ti­ke­r*in­nen über den Kanal Istanbul.

Ein ganz anderes Thema sind die ökologischen Auswirkungen des Kanals. Wenn der Kanal tatsächlich gebaut wird, wird die Sazlıdere-Talsperre verschwinden, die ein Zehntel der Wasserspeicherkapazität von Istanbul ausmacht. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Terkos-Lagune versalzt, die zwei Zehntel der Kapazität liefert. Die Schilfgebiete rund um diese Gewässer sind zudem wichtige Brut- und Durchzugsräume für heimische Vögel und Zugvögel.

Im Erdbeben-Risikobereich

Der Bau des Kanals würde dieses ganz besondere Ökosystem unwiederbringlich zerstören. Auch scheint die geologische Beschaffenheit der Region gar nicht geeignet für einen solchen Kanal. Im Fall eines Erdbebens ist die Gefahr von Erdrutschen und Versumpfung immens. Eine Bebauung der Region würde das Risiko weiter erhöhen.

Was ist der Nutzen dieses Projekts, dessen Kosten und Risiken so hoch sind? Es gibt keine Antwort auf diese Frage.

Die Unterhaltung im Maklerbüro in Kayabaşı hat unterdessen einen anderen Ton angenommen. Makler Özçelik, demzufolge Istanbul das einzige wirtschaftlich relevante Zentrum und eine weitere Verdichtung deshalb unvermeidlich ist, lässt auch seine eigenen Absichten durchblicken: Eigentlich sei Istanbul am Ende und auch ihn werde hier nichts halten. Sein Ziel ist es, noch für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre Grundstücke hier zu verkaufen, und dann, wenn er genug gespart hat, in sein Dorf im Nordosten der Türkei zurückzukehren, um dort in Ruhe zu leben.

Aber was ist, wenn der Kanal doch nicht gebaut wird und eine Bebauung der Flächen nicht genehmigt wird? Was wird dann aus denen, die in die Äcker hier investiert haben?

“Investieren heißt immer auch riskieren. So viel sollten die Leute davon verstehen,“ antwortet Murat Özçelik ruhig.

Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein

ORHAN ESEN, 2020-01-20
ZURÜCK
MEHR VOM AUTOR