Trotz Verboten, trotz Corona: Die Pride Woche verbindet Menschen in der Türkei. Fünf Protokolle aus verschiedenen Teilen des Landes.
Ich bin in Teheran aufgewachsen. Seit ich fünf bin, fühle ich mich als Mann. Ich bewege mich wie ein Mann, ich spreche wie ein Mann. Ich habe immer mit Jungs gespielt und hatte und habe raspelkurze Haare. Als ich 16 war, sagte mir meine Familie, ich müsse jetzt eine „Frau“ werden und verheiratete mich gegen meinen Willen. Die Ehe war für mich wie eine einzige Vergewaltigung. Ich sagte meinem Ehemann immer, dass ich selbst ein Mann sei. Das führte dazu, dass er und mein ältester Bruder mich regelmäßig schlugen. Nach einigen Jahren bekam ich einen Sohn. Ich hatte eine Frau als Geliebte und eines Tages sah mein Ehemann mich mit ihr. Er schleppte mich sofort vor Gericht.
Ich verbrachte eine Nacht in Haft, aber meine Familie holte mich raus. Ich zog mit meinem Sohn zu meinen Eltern. Aber sie waren auch gewalttätig zu mir. Und die Nachbar*innen und alle im Umfeld fragten andauernd, ob ich Mann oder Frau sei. Jeden Tag bekam ich zu hören, ich sei pervers und sündige. Der Mann meiner Schwester vergewaltigte mich. Ich konnte es niemandem erzählen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich entschied mich, in die Türkei zu gehen, um frei leben zu können, und ließ meinen Sohn zurück.
Ich hatte Bekannte in Denizli, die mir halfen, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Ich lebe mit einer homosexuellen Person aus dem Iran zusammen. Ich habe ein soziales Umfeld. Insbesondere bin ich mit Menschen aus den iranischen, libanesischen und türkischen LGBTIQ mir ein Mann aus seinem Fenster etwas zu. Er habe sein Handy im Auto vergessen, ob ich es ihm hochbringen könne, da er nicht gut Treppen steigen könne. Ich fiel darauf rein, er vergewaltigte mich. Wieder konnte ich es niemandem sagen. Denn er war Türke und ich Ausländerin. Die Polizei würde ihm glauben, nicht mir.
Ich will einfach so leben, wie ich bin. Dafür muss ich mich operieren lassen, aber das ist sehr teuer. Eine Zeitlang nahm ich Hormone, doch aus Geldmangel musste ich damit aufhören. Ich bekomme monatlich 750 Lira (etwa 97 Euro) von den UN. An Miete zahlen wir 700 Lira. Eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht. Anfangs arbeitete ich in einer Textilfabrik. Auf einmal kam der Aufseher und fragte mich: „Was bist du?“ Ich verstand nicht einmal, was er wollte. Schließlich sagte ich, ich sei ein Mann. Daraufhin sagte er mir, ich solle nicht wiederkommen, solche wie mich wolle man nicht im Betrieb. Ähnliches erlebte ich auch an anderen Arbeitsplätzen.
Als im März die Grenzen geöffnet wurden, sind viele Menschen, die ich kenne, nach Edirne gefahren. Ich habe der Sache nicht getraut. Tatsächlich ist es für die meisten meiner Freund*innen an der Grenze schlimm ausgegangen. Danach hat Corona alles nochmal schwerer gemacht. Gesundheitliche Versorgung in staatlichen Krankenhäusern bekommen wir als Ausländer*innen nicht.
(dieser selbstgegebene kurdische Name bedeutet Hoffnung Starke Frau)
Ich definiere mich als trans Frau. Mein erster Kampf begann in meiner Familie. Beim Aufwachsen vergrößert sich das soziale Umfeld. Du musst deine Kämpfe mit anderen Kindern führen, dann in der Schule, und zuletzt auch im politischen Umfeld.
Ein Jahr lang hatte ich keinen Kontakt mit meiner Familie und habe versucht, mein eigenes Leben aufzubauen. Sexarbeit mache ich gezwungenermaßen. Als die Nachbarn während der Corona-Krise die ganze Zeit zuhause waren, fingen sie an, Steine gegen meine Fenster zu werfen. Jetzt lebe ich wieder bei meiner Familie. Am Anfang der Coronakrise hatte ich ohnehin kaum Arbeit und habe nur unter großer Angst Kunden empfangen. Irgendwann hat es dann ganz aufgehört. Ich möchte ohnehin gerade keine Sexarbeit machen, weil ich Angst habe, mich anzustecken – und weil ich mich psychisch etwas erholen will. Also arbeite ich derzeit nicht.
Seit zehn Jahren mache ich Sexarbeit. In unserer Stadt sind die Diskriminierungen vielfältig und intensiv. Zu politischen Kundgebungen werde ich manchmal gar nicht erst durch die Absperrungen gelassen, von Frauendemonstrationen werde ich auch ausgeschlossen.
Innerhalb der kurdischen Bevölkerung gibt es viel Ablehnung. Bei der Kundgebung zum Weltfriedenstag im September 2019 wurde ich körperlich angegriffen. Angegriffen wurden nur die trans Menschen, den schwulen und lesbischen Freund*innen neben uns ist nichts passiert. Als trans Frau bin ich sehr sichtbar. Aber auch Freunden*, denen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen worden war, wurden angegangen. Ich trug die Regenbogenfahne. Ich wurde geschubst, die Leute wollten, dass ich die Fahne einrolle und abhaue.
In der Nacht auf den 8. März war ich in einer Bar in Diyarbakır sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Ich habe aber auch keine Anzeige erstattet. Ich bin einfach nur aus der Bar geflohen und hab mich in ein Taxi geschmissen. Das Taxi wurde unterwegs von der Polizei angehalten. Sie wollten meine Telefonnummer und belästigten mich. Wir standen am Kofferraum des Taxis, und ich nutzte den Moment, als der Fahrer ausstieg und dazukam, um einen Polizisten zu schubsen und wegzulaufen. Deshalb war ich nicht in der Verfassung, am 8. März auf die Straße zu gehen.
Als trans Frau erlebe ich dreifache Diskriminierung: Als Kurdin und aufgrund meiner Sprache, als trans Person und als Frau. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Menschen in Diyarbakır so transfeindlich sind. Alle rackern sich doch die ganze Zeit ab, um Freiheit zu erringen – aber die Freiheiten anderer Menschen schränken sie ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Wissen die überhaupt, was wir für Kämpfe führen?
An einem Pride March habe ich noch nicht teilgenommen, aber überall, wo in Diyarbakır trans Menschen unterwegs sind, ist schon ein Pride: Es ist schon ein Ausdruck von Stolz und Widerstand, wenn wir überhaupt auf der Straße gehen. Denn was uns von Schwulen, Lesben und Bisexuellen unterscheidet, ist die große Sichtbarkeit. Als Schwuler kannst du dich verstecken. Aber weil es zwischen meiner Haut und meiner Seele keine Harmonie gibt, erkennen mich die Leute sofort als trans. Ich kann leider bei den Online-Veranstaltungen der Pride Woche nicht mitmachen, weil ich derzeit bei meiner Familie lebe. Ich würde es aber gerne.
Ich habe Bekannte im kurdischen Urfa, die sagen, es sei dort einfacher für Menschen wie mich. Aber das Migrationsamt hat meine Anfrage, ob ich nach Urfa ziehen darf, nicht beantwortet. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Über die Pride-Woche weiß ich nicht viel, aber ich fühle mich unter LGBTIQ sehr wohl und wünschte mir, es wäre nicht auf eine Woche im Jahr beschränkt.
Ich bin in Istanbul aufgewachsen und seit meiner Pubertät weiß ich, dass ich mich auch von Frauen angezogen fühle. Ich lebe offen bisexuell. Ich komme zwar aus einer vermeintlich modernen und offenen Familie und lebe in einer Metropole, trotzdem war das Coming-Out die schwerste Zeit in meinem Leben. Viele Menschen, die mir nahestanden, haben darauf auf eine Weise reagiert, die mich für mein Leben verwundet hat. Es war alles dabei von offenem Hass bis zu gnädiger Toleranz. Ich musste lernen, dass sexuelle Orientierung eine höchst persönliche Sache ist, die bei jedem Menschen anders ist und gerade deswegen offen verteidigt werden sollte.
Seit 2017 unterstütze ich mit meinen beruflichen Fähigkeiten ehrenamtlich verschiedene LGBTIQ-Vereine in der Türkei. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber der Pride ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Insbesondere für jüngere Menschen und diejenigen, die sich einsam und verloren fühlen, sind große Veranstaltungen und große Bewegungen sehr wichtig. Ich glaube, dadurch können im Leben von LGBTIQ-Personen, die vielleicht im familiären Kontext, an der Uni oder im Beruf große Schwierigkeiten haben, leichter safer spaces entstehen. Und je schwieriger die Zeiten werden, desto wichtiger wird unser Kampf. Auf der einen Seite sind wir regelmäßig Hassbotschaften von offiziellen Stellen ausgesetzt, auf der anderen Seite wird die Pride Week jedes Jahr wieder verboten.
Unsere Bewegung findet immer wieder alternative Wege, auch wenn sie versuchen, uns jede Bewegungsmöglichkeit zu nehmen. Ich habe immer noch Hoffnung, dass wir dadurch organisierter und stärker werden. Es ist sowohl für die Einzelnen, als auch für die Bewegung insgesamt wichtig, unseren Kampfgeist vor Burnouts zu schützen. Aber oft geht es leider auch darum, einfach trotzdem weiterzumachen und ich sehe, dass viele Aktivist*innen in meinem Umfeld damit ähnlich umgehen. Meine Motivation speist sich aus der Vorstellung, dass wir eines Tages wieder am Taksim mit Regenbogenfahnen in den Händen in Freiheit unseren Pride March machen können – und dass wir durch unsere Kämpfe heute den folgenden Generationen eine sicherere, bessere Umgebung schaffen können.
Politisch gesehen sind die Kämpfe der LGBTIQ in der Türkei zunehmend lokale Kämpfe geworden. Das hat natürlich mit der Repression zu tun und den Verboten fast aller Veranstaltungen. Es gibt aber trotzdem immer noch Kommunalverwaltungen, die LGBTIQ-freundliche Protokolle unterzeichnen, oder Diskussionsveranstaltungen, die an Hochschulen stattfinden können. Das Gesamtbild ist etwas düster, aber zu sehen, dass wir uns inmitten all dieser Feindschaft überhaupt organisieren können, stärkt wiederum unser Vertrauen in unsere Kraft. Ich finde, dass unsere Bewegung in letzter Zeit sehr erfolgreich darin ist, Alternativen zu erfinden und unsere Kämpfe mit neuen Mitteln fortzuführen, und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.
2014 kam ich zum Jurastudium nach Diyarbakır. An der Fakultät lernte ich Keskesor LGBTI+ kennen, einen der ersten kurdischen Vereine für LGBTIQ. Ich lebe meine Homosexualität offen. Ich bin mittlerweile freiberuflicher Rechtsanwalt und bin immer noch bei Keskesor, weil ich dort einen Ort gefunden habe, um gegen Homophobie und Transphobie zu kämpfen und mich auszudrücken. Allerdings nimmt derzeit meine Funktion in der LGBTIQ-Kommission der Anwält*innenkammer einen Großteil meiner Zeit in Anspruch.
Wir haben uns im Rahmen der Anwält*innenkammer Diyarbakır gegründet, um Kolleginnen* und Kollegen* zusammen zu bringen. Jurist*innen aus jedem politischen Lager haben sich gegen uns gestellt. Für die einen sind wir nicht mit dem Islam zu vereinbaren, für die anderen gibt es im politischen Kampf wichtigere Themen als die unserer Kommission und deshalb dürfe sie gar nicht erst gegründet werden. Trotzdem gibt es uns seit September 2019 als Kommission für LGBTIQ-Rechte.
Eine Gruppe von Jurist*innen hat ein Flugblatt aufgesetzt, um gegen uns zu hetzen. Sie forderten unter anderem, dass Menschen mit „abweichenden sexuellen Eigenschaften“ sich „behandeln lassen“ und die Kommission „aufgelöst“ werden müsse. In den darauffolgenden Monaten haben wir für Referendar*innen und Praktikant*innen Bildungsmodule namens LGBTIQ 101 angeboten. Gleichzeitig konnten wir die Pfilchtverteidigung in vielen Fällen übernehmen, weil hilfreiche Jurist*innen an uns weiterverwiesen haben. Für eine*n LGBTIQ haben wir eine Schutzanordnung erwirken können.
Der Kampf um offene Identität als LGBTIQ ist eine Sache, aber viele sechzehnjährige Jugendliche brauchen viel eher wirkungsvolle rechtliche Mechanismen, um sich selbst verteidigen zu können. Ohne die kommen wir mit den Fällen, die an uns herangetragen werden, auch nicht wirklich weiter. Da ist ein junger Mensch, der nicht möchte, dass die Familie davon erfährt. Und zwar nicht nur aufgrund von religiöser Verschlossenheit oder feudalen Familienstrukturen, sondern auch weil aufgeklärte Mittelklassefamilien ihre Kinder nach dem Muster binärer Geschlechtsidentitäten erzieht und Menschen uns ohne Weiteres ins Gesicht sagen können: „Ab nach Holland mit euch!“ Das ist auch ein verbreiteter Hashtag.
Seit ich nach Diyarbakır gekommen bin, hat es kaum Fortschritte gegeben, was das Recht auf Versammlungsfreiheit oder überhaupt die Möglichkeit, sich als LGBTIQ im öffentlichen Raum auszudrücken, angeht. Als wir 2014 als LGBTIQ-Gruppe an den Newroz-Feierlichkeiten teilnahmen, gab es keinerlei Probleme. Aber 2019 kam es zu Angriffen auf unsere Gruppe während der Newroz-Feierlichkeiten und am Weltfriedenstag. Da die staatliche Politik erstens selbst Hate Speech verbreitet und zweitens Hassverbrechen an LGBTI straffrei bleiben, gibt es auch in der hiesigen Bevölkerung eine Zunahme an Hassverbrechen.
Der erste Pride war ja ein Aufstand, ein Riot. Unser Widerstand ist möglich geworden durch diesen Aufstand gegen die Repressionen, unter denen LGBTIQ-Communities leiden mussten. Es gibt einen riesigen Unterschied zu unserem heutigen Widerstand. Ich sehe, dass wir heute eher als Teil des Mainstream auf ein liberales Einfordern von Grundrechten konzentriert sind.
Dennoch unterscheidet sich der Pride in Istanbul und die LGBTIQ-Bewegung in der Türkei an einigen Punkten von anderen in der Welt. Wir bekommen es immer wieder hin, in der Türkei auch allgemeine politische Probleme zu thematisieren und gleichzeitig und gemeinsam zu kämpfen. Trotzdem gibt es viel zu kritisieren: Inwieweit die türkische LGBTIQ-Bewegung auch kurdische LGBTIQ mitdenkt, oder andersherum, inwieweit bei den Kämpfen um einen Friedensschluss zwischen Staat und kurdischer Bewegung auch die Anliegen von LGBTIQ mitgedacht werden. Ich bin mir da nämlich in beiden Fällen nicht so sicher.
Auch als in der Türkei keine bewaffneten Auseinandersetzungen stattfanden, während des Friedensprozesses, gab es weiterhin Hassverbrechen. Aber es herrschte ein insgesamt positiveres Klima als heute. Denn man konnte in Diyarbakır auf der Straße Feiern und Versammlungen abhalten. Wir wurden zum Beispiel als Keskesor LGBTI+ zum Munzur-Kulturfestival nach Dersim eingeladen. Später fand dort in Dersim eine kleine, lokale LGBTIQ-Demo statt. Es ging eben um gesellschaftliche Friedensprozesse. Heute müssen wir als LGBTIQ auch eine Friedenspolitik formulieren können.
Im Schatten bewaffneter Konflikte ist es natürlich schwierig, Politik zu machen oder sich in irgendeinem gesellschaftlichen Feld kämpfend zu bewegen. Insofern hat das Scheitern des Friedensprozesses auch dem Kampf gegen Homophobie und Transphobie geschadet. Während des Friedensprozesses haben wir vor allem um Sichtbarkeit gekämpft. Es gab damals kurdische Kommunalverwaltungen und lokale NGOs, die mit uns zusammengearbeitet haben. Seit wieder Krieg herrscht, eskalieren leider auch die nationalistischen und polarisierenden Diskurse, und das führt dazu, dass wir weniger Unterstützung aus der Zivilgesellschaft bekommen.
Ich bin eine Person, die mit dem binären Gendersystem keinen Frieden geschlossen hat und würde mich am ehesten als queer bezeichnen. 2011 fing ich an zu studieren und damals gab es nicht so viel Bewusstsein wie heute, was LGBTIQ angeht, nicht so viel Solidarität und ehrlich gesagt hatten wir auch nicht so viel Hoffnung wie heute. Ich bin hoffnungsvoll, was unsere Kämpfe angeht, die feministische Bewegung und die LGBTIQ-Bewegung machen kräftige Fortschritte, manchmal sind wir selbst über unsere Stärke erstaunt.
Andererseits sieht man, wie zum Beispiel die diskriminierenden Äußerungen des Religionsministeriums Diyanet direkt für viele unserer Freund*innen dazu führen, angegriffen zu werden. Klar gab es immer eine Phobie gegen uns, aber Hassdiskurse zementieren sie und stärken die Täter, während die Straffreiheit für Personen, die trans Menschen ermorden, viele Aktivist*innen abgeschreckt und entmutigt hat. Aber wir haben schon lange gelernt, uns gegenseitig an den Händen zu fassen.
Corona bedeutet für viele von uns vor allem Arbeitslosigkeit. Als LGBTIQ findest du ohnehin nur sehr schwer einen Job, und wenn dann alles dichtmacht und alle in unbezahlten Urlaub geschickt werden, heißt das für viele von uns, unsere Selbstbestimmung zu verlieren und vielleicht zu unseren Eltern zurückkehren zu müssen. Die meisten von uns waren halt in nicht sozialversicherten Jobs. Das gilt auch für Studierende, die einfach viele Freiräume verloren haben mit der Krise.
Ich selbst musste zu meinen Eltern zurück und da kann ich meine Identität nicht offen leben. Aber ich höre auch von anderen, dass ihre Eltern einfach spüren, was die Kinder verbergen, und ich habe Angst, dass meine Eltern das auch spüren. Zum Beispiel hatte ich letztens ein Gespräch mit meiner Mutter, wo ich gesagt hab, ich möchte nicht mit Leuten zu tun haben, die mich nicht so akzeptieren, wie ich bin – und plötzlich fragte sie ganz aggressiv und ganz nervös, was ich damit meine, und wenn ich in ihren Augen nicht halbwegs “normal“ aussehen würde, könnte diese Spannung wohl sehr eskalieren.
Viele Frauen und LGBTIQ haben während der Ausgangssperre vermehrt häusliche Gewalt erlebt, die in sehr vielen Fällen unsichtbar geblieben ist. Wir wissen nur: In 20 Tagen wurden 21 Frauen ermordet. Trans Menschen, die ihre Identität vor ihrer Familie verstecken müssen, sind über Nacht darauf angewiesen, ihre Kleidung und ihren Namen zurückzulassen und vielleicht sogar ein Kopftuch zu tragen. Einwände können uns sehr teuer zu stehen kommen.
Die Pride Woche zeigt uns jedes Jahr, wie mutig und hoffnungsvoll wir trotz allem doch sind. Sie zeigt uns, dass wir weder allein noch verkehrt sind, das ist ein Slogan von uns. Wir können Seite an Seite stehen, um das allen zu zeigen. Ich glaube, 2013 war es leichter als heute, aber dafür haben wir jetzt gelernt, nicht nur demonstrieren zu gehen, sondern wirklich mit unseren Körpern Widerstand zu leisten. Ich habe letztes Jahr auf dem Pride zweimal Polizeigewalt erlebt, Freund*innen von mir wurden festgenommen. Ich will das nicht romantisieren, aber wir haben uns am nächsten Tag sehr entschlossen und hoffnungsvoll angeschaut.
Die jüngeren Generationen können sich heute unglaublich schnell Wissen über unsere Kämpfe aneignen, das liegt nicht nur am Internet, sondern auch daran, dass wir überall sichtbar sind. Es gibt türkischsprachige Quellen zu vielen Themen, Beratungsstellen und Räume in den sozialen Medien. Die nächste Generation kommt heftig, würde ich sagen. Vielleicht führt unsere Sichtbarkeit dazu, dass sie mehr Druck ausgesetzt sind als wir es waren, aber das wird auch den Widerstandsgeist bei ihnen stärken.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny