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Proteste in Istanbul-Kadıköy gegen umstrittenes „Vergewaltigungsgesetz“

Aus der Täterperspektive

Die Pornografisierung der Nachrichtensprache impliziert, dass sexuelle Gewalt eine Art des einvernehmlichen Akts ist.

SIBEL SCHICK, 2017-02-13

Im Dezember letzten Jahres geriet die AKP-Stadtverwaltung der westtürkischen Provinz Kütahya in öffentliche Kritik, als bekannt wurde, dass sie an frisch verheiratete Paare ein Buch mit dem Titel “Ehe und Familienleben“ verteilt. In der Publikation werden Kinderehen und sexuelle Gewalt innerhalb der Ehe sowie Gewalt gegen Frauen als Erziehungsmaßnahme legitimiert und die Berufstätigkeit von Frauen als “eheschädigend“ gewertet. Die Stadtverwaltung warf den Kritiker*innen “Diffamierung und Denunziation“ vor.

Mit kostenlosen Publikationen wie diesen festigt die AKP-Regierung nicht nur die männliche Hegemonie: Sie erlässt mit Hilfe der patriarchalen Gesetzgebung, von feministischen Aktivist*innen auch als “männliche Gerechtigkeit“ bezeichnet, Strafmilderung für Sexualstraftäter bei sogenannter “Anstiftung zur sexuellen Erregung“ – ja sogar Straffreiheit.

Das eindrücklichste Beispiel für Straffreiheit, das potenzielle Täter möglicherweise ermutigt, ist der Fall Abdullah Çakıroğlu. Er hatte eine junge Frau in einem Bus in Istanbul mit der Begründung ins Gesicht getreten, sie habe zu kurze Hosen getragen. Erst nach öffentlichen Reaktionen kam der Täter, der letztlich freigesprochen wurde, in Untersuchungshaft.

Darüber hinaus wird mit der sexistischen Sprache, die bei der Berichterstattung über sexuelle Straftaten in Presse und Medien verwendet wird, der Mut von Betroffenen sexueller Straftaten gebrochen, und damit auch ihr Streben nach Gerechtigkeit.

Täterperspektive und Victim Blaming

Ein Beispiel für die Pornografisierung der Sprache bei der Berichterstattung über sexuelle Gewalt sind Zeilen wie: „Sie streckten das junge Mädchen, an ihren Haaren zerrend, auf die Ladentheke…“, erschienen in einem Bericht im Januar 2016 der Zeitung Milliyet.

Die hier verwendete Sprache ist deshalb so gefährlich, weil sie Gewalt als ein erotisches Moment beschreibt und impliziert, dass sexuelle Gewalt als eine Art des einvernehmlichen Akts wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass nicht die Täter, sondern die der Gewalt ausgesetzte Person Subjekt des Satzes ist, kann die Angst der Betroffenen vor ihrer Enthüllung schüren.

Der türkische Verein zur Bekämpfung sexueller Gewalt (türk. Cinsel Şiddetle Mücadele Derneği), kurz CŞMD, interpretiert die Berichterstattung aus Täterperspektive wie folgt: “In Nachrichten, in denen Migrant*innen, Minderheiten, Frauen, Menschen mit Behinderung, LGBT's oder Tiere diskriminiert werden, wird durch eine Erklärung der Motive für die Gewalttat den Überlebenden selbst die Schuld zugewiesen. Für einige Berichterstatter sind dies nämlich keine echten Betroffenen. Es gibt die Einstellung, dass einige Menschen aufgrund ihrer Identität die an ihnen verübte Gewalt verdienen.“

Die konsumorientierte Berichterstattung über sexuelle Gewalt hat nicht nur den Zweck, die Gesellschaft zu informieren oder Straftaten zu reduzieren: Sie legt die Absicht nahe, einen Nutzen aus dem erlebten Trauma zu ziehen. Die Einladung von Mördern und Vergewaltigern in Fernsehshows sowie Nachrichten aus der Perspektive des Täters führen dazu, dass Leser*innen und Zuschauer*innen Verständnis für den Täter entwickeln. Außerdem werden Gründe und Konsequenzen der Gewalttat ausgeblendet und der Eindruck erweckt, dass Gewalt unvermeidbar ist.

Berichterstattung als Leitfaden für Gewalt

Das Hinterfragen der Unschuld bei sexuellen Übergriffen impliziert, dass Vergewaltigung einvernehmlicher Sex sei. Aber der Täter kann nicht nur mit seinem Geschlechtsorgan, sondern auch mit Objekten vergewaltigen, und dabei nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder oder Tiere als Angriffsopfer wählen. Laut CŞMD erleichtert die Schuldzuweisung an die Betroffenen das schlechte Gewissen: “Wenn wir die Überlebenden beschuldigen, dann können wir uns selbst aus der unbequemen Position befreien, zugeschaut, nichts dagegen unternommen zu haben und damit Mittäter zu sein.“

Die Legitimierung von Straftaten gegen Frauen und LGBT's in den Mainstream-Medien ist mit einer Drohung gleichzusetzen. Die öffentliche Peinigung der Betroffenen führt zu ihrem Stillschweigen. Jene, die es als zu zermürbend empfinden, zu beweisen, dass sie die Gewalt nicht verdient haben und auch nicht einverstanden waren, werden sich unter Umständen selbst die Schuld geben. Jene, die das Schweigen fördern, sind dagegen die Gewalttäter.

Filmmor, eine Frauenorganisation, gegründet zur Stärkung und Steigerung der Repräsentation von Frauen in den Medien, hat eine Broschüre mit Richtlinien zum Thema Gewalttaten gegen Frauen entwickelt. Darin steht, dass Mörder und andere Täter die Berichterstattung über Frauenmorde schon fast als Leitfaden nutzen:

“Mit einem ausgeschnittenen Zeitungsartikel, den er an den Kühlschrank befestigte, bedrohte ein Mann monatelang seine Frau. Ein anderer hatte vor Gericht um Strafmilderung wegen “Anstiftung“ zu erhalten, Tatmotive aus der Zeitung vorgetragen. Aus diesem Grund enden unsere Richtlinien mit der Frage: Möchten sie der Journalist sein, der diesem Frauenmörder das Motiv liefert?“

Die Sprecher*innen von Filmmor sind außerdem der Meinung, das größte Problem in der Mediensprache sei, dass die Berichterstattung sich meist auf die Täteraussagen bei der Polizei stützt. “Auf diese Weise nimmt der/die Journalist*in die Sichtweise des Täters ein, und verwendet dieselbe Sprache.

So werden diese Nachrichten wegweisend für potenzielle Täter einerseits, Mittel zur Angst, Drohung und Abschreckung für die Betroffenen andererseits. Die Sorge der Frauen, „in aller Munde“ zu sein und damit das Gesicht zu verlieren, weitet sich auf die Sorge aus, „in die Zeitung zu kommen“. Im Kampf gegen Frauenmorde und Gewalt müssen wir daher auch gegen sexistische Sprache in der Berichterstattung kämpfen, die bei Frauen die Sorge schürt, nicht nur Betroffene von Gewalttaten, sondern Gegenstand eben dieser Berichte zu werden.

SIBEL SCHICK, 2017-02-13
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