Vor dem Referendum in der Türkei buhlt die AKP bei ihren Anhängern in Europa um das Ja-Wort. Nur einer wird schmerzlich vermisst.
Kurz vor dem Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım in Oberhausen ziehen sich am Eingang zur König-Pilsener-Arena zwei Jugendliche gegenseitig auf:
„Verräter! Staatsverräter!“
„Hehe, wer is'n hier der Verräter, du bist'n Verräter!“
Drinnen skandieren AKP-Anhänger in der Fankurve „Re-cep Tay-yip Er-do-ğaaan“. Auf den Tribünen wogen die rot-weißen Fahnen. Ohrenbetäubend schallt das Wahlkampflied der AKP im stumpfen Viervierteltakt aus den Boxen: „Für eine unabhängige Justiz, für Respekt vor jeder Meinung, unserer Geschichte zuliebe: natürlich Ja“. Eine Mittfünfzigerin mit akkurater Föhnfrisur reckt eine Erdoğan-Fahne mit Nachdruck in die Luft, die Hüften im Rhythmus wippend.
Bevor Binali Yıldırım die Bühne in der König Pilsener-Arena betritt, heizen AKP-Funktionäre die Menge an. Sie schreien so laut ins Mikrofon, dass man seine eigenen Gedanken nicht mehr hört. Als wollten sie die Besucher*innen allein durch die Lautstärke überzeugen. Dabei müssen sie hier gar niemanden überzeugen: Wer an diesem Samstag mit einer türkischen Fahne im Gepäck dem türkischen Ministerpräsidenten entgegenfiebert, wird im Referendum ja sagen. Denn: „Wer sein Heimatland liebt, sagt ja“ – so der Titel der Wahlkampfveranstaltung.
Fast das gesamte Kabinett betritt die Bühne. Familienministerin, Wirtschaftsminister, Bildungsminister, Gesundheitsminister und Staatssekretäre, eine*r nach dem anderen. Die Massen begrüßen jeden neuen Gast auf der Bühne mit einem überaus prägnanten Slogan: Recep Tayyip Erdoğan!
Eine kaum beneidenswerte Rolle, die die Minister hier inne haben: Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi sieht die türkische Wirtschaft bald unter den drei größten Wirtschaftsmächten der europäischen Länder und unter den ersten zehn auf der Weltrangliste. Genau, er spricht von der türkischen Wirtschaft.
Bildungsminister İsmet Yılmaz allerdings versteift sich in Tiraden gegen die oppositionelle CHP, wohl auch, weil er kaum Gutes über das Bildungssystem erzählen kann. Die Diskussionen über das Referendum zur Verfassungsänderung hätten sich auf die CHP positiv ausgewirkt – wenn der Volksentscheid mit ja entschieden wird, würde die gesamte Türkei sich zum Guten wandeln. „Glaube ja nicht, dass es eine weitere Rettung gibt…“, ertönt an dieser Stelle der Song zum Referendum.
Die Message ist angekommen. Ein weiterer Teilnehmer aus dem Kabinett, der stellvertretende Ministerpräsident Mehdi Eker, tritt ans Mikrofon. Die Masse in der Halle kann kaum eine weitere Rede mit schlecht vorgetragenen Gedichten aushalten, vor allem, da der Mann, den sie verehren, nicht anwesend ist.
Die politischen Veränderungen tangieren die hiesige Menschenmasse nicht. Sie sind ja auch nicht diejenigen, die die Veränderungen am eigenen Leib erfahren werden. Sie wollen nur ihn. Diese Tatsache trägt sich mit einer erschreckenden Vehemenz von der oberen Ecke unter das gesamte Dach der Halle: “Reecep Tayyip Erdoğan“.
Nagihan Gölcü und Sevilay Ekici Gümüş sind mit ihren drei Töchtern in aller Frühe aus Braunschweig angereist. Die Jahre der AKP-Regierung kennen die beiden 37-Jährigen nur aus Deutschland, wo sie seit 17 Jahren leben. „Die AKP-Regierung ist die beste, die wir je gesehen haben“, sagen sie. „Wir vertrauen unserem Präsidenten und glauben, dass er nach der Verfassungsänderung noch besser regieren wird.“
Einen Staatschef wie Erdoğan, da sind sich die beiden Frauen einig, gibt es auf der Welt nicht ein zweites Mal: ein Mann, der einer von ihnen ist, der den Frauen mit Kopftuch den Zutritt an die Universitäten ermöglicht hat, ein wahrer Demokrat. Wenn die AKP-Minister in der König Pilsener-Arena immer wieder fragen: „Seid ihr bereit für eine große Türkei?“, rufen Gölcü und Gümüş samt ihren Töchtern begeistert ja.
Und dann betritt Binali Yıldırım die Bühne. Die gleiche Zugkraft wie Erdogan hat Yıldırım nicht. Wie aus dem Handgelenk spult er sein Programm runter und spricht über den heimtückischen Angriff der FETÖ auf die Türkei und glaubt, er erkläre, worüber im Referendum abgestimmt wird und für wen die Gesetzesänderung nützlich sein wird. Dabei ruft ihm die Menge längst die Antworten entgegen.
Yıldırım bezichtigt die Opposition der Lüge: Die Rechtsprechung würde gar nicht ihre Unabhängigkeit verlieren, sondern nur vereinfacht werden. Was wiederum die Türkei stärken würde. „Wir heben die Doppelspitze auf“, sagt Yıldırım und fragt im selben Atemzug „oder gibt es in Deutschland etwa zwei Kanzlerinnen?“
Niemanden interessiert, dass der Name des obersten Verfassungsgerichts in „Rat der Richter und Staatsanwälte“ geändert wird und dass der Staatspräsident die Mehrheit dieser Richter und Staatsanwälte ernennen wird. Yıldırım erklärt die auf uns zukommende Katastrophe mit folgender kruder Erklärung: Wer wählt den Präsidenten? Na – das Volk! Und der wählt wiederum die Mitglieder der höchsten judikativen Institution. Nach seiner Logik bestimmt somit das Volk indirekt die Auswahl der Richter und Staatsanwälte.
Binali Yıldırım weiß die Gefühle der Exiltürk*innen zu adressieren. „Euer Herz ist zur Hälfte hier, zur anderen Hälfte in der Türkei. Auch wir sind zur Hälfte in der Türkei und zur anderen Hälfte bei euch, die ihr fern von der Heimat seid“, ruft er den jubelnden Menschen zu. „Vergesst nicht: Ihr seid niemals allein. Hinter euch stehen 80 Millionen Türken, hinter euch steht euer Präsident Recep Tayyip Erdoğan.“
Sobald auf der Bühne der Name Fethullah Gülens fällt, schallen aus dem Publikum Rufe nach der Todesstrafe. Zunächst vereinzelt, dann immer bestimmter. Auch Nagihan Gölcü und Sevilay Ekici Gümüş finden, dass diejenigen, die die Regierung in jener Julinacht stürzen wollten, die Todesstrafe verdienen. „Die Schuldigen sollen ihre Strafe bekommen“, sagt Gümüş.
Von inhaftierten Journalisten wissen sie nicht, aber zum Thema Pressefreiheit haben sie etwas zu sagen. „In unserer Kultur ist es wichtig, Respekt vor dem Präsidenten zu haben. Man darf ihn eben nicht beleidigen“, erklärt Gölcü. Zudem: Wer unschuldig ist, werde ohnehin wieder freigelassen.
Als das „Demokratiefestival“ zu Ende geht, machen sich die Menschen, inspiriert von den fortschrittlichen Gedanken von Freiheit, auf den Weg nach Hause. Vor der Veranstaltungsarena sprechen die Leute darüber, weshalb sie „Ja“ beim Referendum sagen werden, dabei haben ihre Argumente nicht viel mit dem zu tun, was zuvor in der Arena gesagt wurde: „Ich habe zwei Väter, der eine lebt in Kars, der andere in Ankara. Wenn Tayyip Baba sagt: spring, dann springe ich.“
Dies kann man wohl nicht für alle sagen, die im Referendum mit „ja“ stimmen werden. Aber für die 10.000, die sich am Samstag in Oberhausen einfanden, stand die Verfassungsänderung in der Türkei nicht an oberster Stelle. Wäre Erdoğan hier leibhaftig erschienen, hätte die Welt erfahren können, wie wahre Heimatliebe sich Bahn bricht.
Niemand hier hätte noch weitere Argumente für ein „Ja“ zur Verfassungsänderung gebraucht, ihre Entscheidung ist bereits gefallen. Sie vergöttern diesen Mann, so einfach ist es. Und sind es über alle Maßen leid, die schlechten Berichte zur Lage der Türkei aus deutschen Radiosendern zu hören.
Überall auf der Welt passiert Schlimmes und Schmerzvolles. Warum berichtet man nur über die Türkei? Schaut Euch die Wirtschaft an, wie sie gewachsen ist. Die Terroranschläge mögen zugenommen haben, aber der Grund dafür ist doch klar: Eine erstarkende Türkei hat viele Feinde, die das Land aufmischen wollen. Und in naher Zukunft, wenn alles besser wird, werden sie alle schon sehen.
Sie lieben diesen Mann, sie sind stolz auf ihn, und? Sie lieben ihn mit all seinen Ecken und Kanten. Noch nie ein Volk gesehen, das dermaßen in sein Staatsoberhaupt verliebt war?