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„Wir sagen: Lasst uns zusammenleben!“

„Erdoğan hat nie gegen den IS gekämpft“

Salih Muslim, Kovorsitzender der kurdischen Partei in Syrien (PYD), beurteilt die Syrien-Politik der Türkei und berichtet von den eigenen Zielen.

ERK ACARER ŞAMIL SARIKAYA, 2017-04-27

Die Belagerung von Rakka, der Hauptstadt des „Islamischen Staates“ (IS), durch die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) dauert an. Es heißt, die IS-Führungsspitze einschließlich ihres Chefs Abu Bakr Al-Baghdadi habe sich nach Deir ez-Zor zurückgezogen.

Die Verhandlungen der Türkei um Rakka laufen noch, doch die Worte von Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu klingen wie ein Eingeständnis, dass die Türkei dabei nicht viel zu melden hat: „Sie (die Internationale Koalition, Anm. d. Red.) haben von Anfang an nicht auf uns gesetzt, weil die YPG Druck gemacht hat“.

Die türkische Syrien-Politik, die auf Eroberungsdrang und die Hoffnung auf ein Freitagsgebet in Damaskus basiert, ist offenbar völlig zusammengebrochen. Da sagt sich die Türkei auf den letzten Drücker: „Verhindern wir wenigstens einen kurdischen Korridor.“ Das belegt auch die Bombardierung der Shengal-Berge im Föderierten Kurdistan/Irak und der Karacok-Berge in Rojava/Syrien durch die türkischen Streitkräfte am 25. April 2017. Der Angriff wurde von den Vereinigten Staaten und Russland stark kritisiert, da es den Kampf gegen den sogenannten IS gefährde.

Um seine Einschätzung der aktuellen Lage in Syrien einzuholen, traf taz.gazete Salih Muslim, den Kovorsitzenden der kurdischen Partei PYD in Syrien, bei einer Hamburger Tagung.

Muslim zieht Bilanz über die bisherige Syrien-Politik der Türkei. Dabei verweist er auf neue von Dschihadisten in der Türkei ausgehende Desaster. Und er ist der Ansicht, dass die türkische Militäroperation „Schutzschild Euphrat“, die über 70 türkische Soldaten das Leben gekostet hat, und das Geschehen in al-Bab keineswegs so verliefen, wie es der türkischen Öffentlichkeit dargestellt wurde.

„Wir verteidigen uns nach wie vor“

Wie steht es aktuell im Kampf gegen den IS? Welche Entwicklungen gibt es hinsichtlich der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG, also dem bewaffneten Arm der PYD? Welche Ziele stehen an?

„Wir verteidigen uns nach wie vor und organisieren weiter die Bevölkerung in diesem Rahmen“, sagt Salih Muslim. „Von Anfang an unternahmen wir Schritte zur Existenzsicherung. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der die Völker in all ihrer Vielfalt geschwisterlich zusammenleben können. Unser Anliegen gilt also nicht allein den Kurden. Es geht uns um eine Änderung der Geisteshaltung in dieser Region.“

Föderalismus statt Abspaltung

Zur Einschätzung der Ereignisse in Syrien aus Sicht der Kurden und anderen Völker in der Region sagt Muslim: „Was aus Syrien wird, hängt vom Willen der Bevölkerung ab. Die Aggressionen gegen die Kurden kommen von Reaktionären, die nicht wollen, dass sich unser Wunschmodell etabliert. Zu ihren Waffen gehört auch das Lügen. Arabische Nationalisten sagen, wir wollten die Spaltung. Daran denken wir aber gar nicht. Wir wollen, dass sich nationalistische, reaktionäre Gesinnungen ändern.

Bislang sind nationalistische, reaktionäre Ideologien ausschließlich den Weg des Tötens und der Assimilierung gegangen. Auf diesem Weg können sie uns aber nicht besiegen und nicht vernichten, das haben wir bewiesen. Wir sagen: 'Lasst uns zusammenleben!’ Wer unser System erkennt, schließt sich uns an und integriert sich. Die Araber von Minbic sind mit uns. Die im Norden von Rakka lebenden arabischen Stämme akzeptieren unser System.

Sie erwärmen sich gerade für den demokratischen Föderalismus. Wir haben also in Minbic und Tel Abyad gezeigt, dass unser geplantes Modell funktioniert. Wir werden es auch in Rakka zeigen.“

Rakka bald unter YPG-Herrschaft?

Muslims Überzeugung spricht dafür, dass die demokratischen Kräfte DKS demnächst die Kontrolle in der Region um Rakka übernehmen könnten. Wie eindeutig die Haltung der Koalitionskräfte ist, belegen wiederum die Worte des PYD-Vorsitzenden: „Unserer Meinung nach wissen die USA und die Koalition, wie nötig ein Wandel im Nahen Osten ist. An diesem Punkt gehen die Pläne der Türkei, die in Syrien Eigenes im Sinn hat, nicht auf.

Die USA und Europa wollen kein modernes osmanisches Reich. Das ist ein reines Fantasieprodukt. Wir wollen, dass Rakka endlich frei ist. Dann stellen wir unser Modell der regionalen Bevölkerung vor. Sie entscheiden selbst. Wenn sie zusammenleben wollen, steht unsere Tür offen. Wollen sie für sich bleiben, werden wir das akzeptieren. Hauptsache, sie haben nicht vor, uns als Gegner zu bekämpfen. Wir wollen auch in Rakka Freundschaft. In einem „islamischen Staat“ oder Fürstentum können wir nicht leben.“

Türkischer Geheimdienst und IS

Der Kampf der Türkei gegen den sogenannten IS steckt in der Sackgasse. Zur dschihadistischen Strömung in Syrien sagt PYD-Chef Muslim:

„Der IS ist eine Figur auf dem Schachbrett. An der Spitze derer, die sie füttern und heranziehen, finanzieren und ausbilden, steht neben dem Kapital aus Saudi Arabien und Qatar vor allem der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Türkei hat wichtige Leute im IS. Der vor einem halben Jahr getötete Turkmene Ebu Müslüm Türkmani fungierte auch als Stellvertreter von Baghdadi. Er war Mann des türkischen Geheimdiensts, und gleichzeitig im IS. Dort arbeitete er als verlängerter Arm der Türkei. Es gibt eine ganze Reihe solcher Leute.“

Und was sollten solche Pläne bezwecken? Muslim nennt gleich zwei Dinge:

„Erstens die Vernichtung der Kurden, zweitens die Errichtung eines Sultanats. Zu den in Homs kämpfenden Dschihadisten stellten sie Leute aus Kirgistan und Kasachstan vor unsere Nase. Unter den Leuten, die aus Homs kamen, befanden sich wiederum zahlreiche türkische Agenten. Warum habt ihr diese Leute in Shahba, Rojava, Dscharabulus stationiert? Was sie vorhaben, ist klar: Fortsetzung der Angriffe und Zerstörung der Demographie!“

Es sei nicht allein der IS, der den Krieg in der Region vorantreibe, so Muslim: „In Shahba wurden die kurdischen Dörfer zerstört. Die mit türkischer Unterstützung gegründete Brigade Sultan Murad brüstet sich lautstark: 'Wir haben 400 bis 600 Familien in der Region angesiedelt.’ Dazu liegt der UN sogar ein Bericht vor. Alle wissen davon.

Es ist eben nicht, wie behauptet wird, die YPG, die Menschen aus ihrer Heimat vertreibt und die Demographie verändert. Die Türkei hat sich mit Dutzenden Organisationen auf der Linie der Muslim-Brüder zusammengetan, damit das Chaos in Syrien bestehen bleibt. Sie hat Dschihadistenverbände wie Ahrar al-Sham und Feylek al-Sham unterstützt.“

Was wirklich in al-Bab geschah

Bei der türkischen Militäroperation „Schutzschild Euphrat“, die im vergangenen Sommer in Nordsyrien begann, kamen über 70 Soldaten ums Leben und „Kriegsinstrumente“ der Türkei fielen dem IS in die Hände. Was war das Ergebnis der Operation? Fand sie so statt, wie öffentlich berichtet wird?

Der PYD-Chef sagt: „Al-Bab wurde nicht befreit, man bekam es als Ergebnis von Verhandlungen mit dem IS in die Hand“, und unterstreicht ein paar wichtige Punkte: „Es waren nicht Soldaten, die die Region gesäubert haben, es fand ein Austausch statt. Gegen den IS funktioniert nur ein Guerilla-Kampf. Unerfahrene Soldaten ohne Ortskenntnis sind nicht in der Lage, gegen Dschihadisten zu kämpfen.

Kürzlich wurde gemeldet, in der Türkei seien 860 IS-Leute festgenommen worden. Darüber wurde aber nicht viel geredet. Bei den Banden gibt es einheimische Aktivisten wie auch ausländische. Man kam überein. Dem IS wurde gesagt: 'Du räumst das Gebiet und wir liefern deine Aktivisten aus.’ Ein Teil dieser Leute wurde nach Rakka überführt. Ein Teil blieb in der Türkei. Tatsächlich haben die Türkei und Erdoğan weder physisch noch mental je gegen IS gekämpft.“

Probleme mit Freigelassenen

„Die Türkei wird noch einen schlimmen Preis zahlen müssen“, fährt Muslim fort: „Gibt es offizielle Informationen darüber, wie viele IS-Leute in der Türkei inhaftiert sind und wie viele freigelassen wurden? Werden sich die Freigelassenen in der Türkei etwa ruhig verhalten? Natürlich werden sie dem Land Probleme bereiten.

Die Türkei steckt von Anfang an in diesem Sumpf. Wir haben es beim Austausch von Mossul gesehen (Im Juni 2014 wurden 49 türkische Geiseln vom IS verschleppt, die im September wieder frei kamen. Die türkische Regierung machte zunächst keine näheren Angaben, nur dass der Geheimdienst in die Rettungsaktion involviert sei, allerdings berichteten türkische Medien von einem Austausch mit IS-Gefangenen. Anm.d.Red). Die Ausgetauschten planten die Anschläge von Suruç und Ankara. Dasselbe wird wieder geschehen. Willst du dann wieder die YPG um Hilfe bitten, wie damals bei der Verlegung der Grabstätte von Sulaiman Schah? Damals sagte die Türkei zwar öffentlich, sie habe die Verlegung des Grabs allein durchgeführt. Das stimmt aber nicht, die YPG machte den Weg frei und schützte die türkischen Soldaten. Noch einmal: Kein Soldat kann einen Guerilla-Kampf führen.“

Nur Einheit kann Zerstörung stoppen

Muslim weist vor allem auf die Zerstörungen in der Region hin: „Erdoğan wollte die Hindernisse vor sich aus dem Weg räumen. Das größte Hindernis auf seinem Weg zum Sultanat sind die Kurden. Deshalb hat er gemeinsam mit den Einheiten in Syrien einen Völkermord gegen die Kurden eingeleitet.

Die Massaker, die in Shengal und Sindschar ihren Ausgang nahmen, wurden in Kobanê gestoppt, gingen aber innerhalb der Türkei weiter. Die Methoden vom IS in Syrien wurden in den türkischen Orten Silopi, Şırnak und Cizre angewendet. Häuser wurden zerstört, Menschen verbrannt.

Die Völker in der Türkei mussten sich auf beide möglichen Ergebnisse des Referendums einstellen. Wäre ein Nein herausgekommen, hätte Erdoğan sich gerächt. Am 16. April gab es aber ein Ja. Die Lage ist nicht gut. Der Sultan will sein Ziel erreichen.

Nur wenn Kurden, fortschrittliche Kräfte und Demokraten zusammenstehen, gibt es einen Ausweg aus dem Chaos. Mittlerweile ist jeder eine Zielscheibe, der für die Freundschaft der Völker, für Gleichberechtigung und Demokratie eintritt. Kommt es nicht zur Einigung, wird man gemeinsam in die Katastrophe gestürzt.“

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

ERK ACARER ŞAMIL SARIKAYA, 2017-04-27
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