Die türkische Regierung treibt den Bau von Atomkraftwerken an erdbebengefährdeten Standorten voran. Ein Dokumentarfilm nähert sich dem Thema.
Es war kurz vor den Gezi-Protesten im Mai 2013. Mir sprang beim Lesen der Nachrichten eine Meldung ins Auge: Premierminister Erdoğan werde gemeinsam mit seinem japanischen Amtskollegen Shinzo Abe einen Staatsvertrag zum Bau eines AKWs in Sinop unterzeichnen. War das ein Witz?
Wie konnte es sein, dass knapp zwei Jahre nach der Katastrophe in Fukushima Japan damit beauftragt wurde, ein Atomkraftwerk in einem stark erdbebengefährdeten Schwellenland wie der Türkei zu bauen? Ich beschloss im September 2015 mit dem türkischen Dokumentarfilmregisseur Can Candan (Mauern, 2000; Mein Kind, 2013) und einem Team einen Film über die atomaren Bestrebungen der Türkei zu produzieren: „Nuclear alla Turca“.
Zwei Jahre nach der „Atoms for Peace“-Rede des US-Präsidenten Eisenhower vor der UN-Vollversammlung 1953, schloss die Türkei 1955 als weltweit erstes Land eine Vereinbarung mit den USA über ein Atomenergieabkommen ab. Und stieg – begleitet von massiver US-Propaganda – ins atomare Zeitalter ein. Allerdings wurde in der Türkei die Bestrebung zur zivilen Nutzung von Atomkraft flankiert von der Entscheidung, im Rahmen der NATO-Allianz US-Atomwaffen stationieren zu lassen.
1962 spielten die in der Türkei stationierten atomaren Jupiterraketen eine Schlüsselrolle in der Kuba-Krise zwischen der UdSSR und den USA, die die Welt fast in einen atomaren Weltkrieg gestürzt hätte. Die UdSSR war damals kurz davor, die in der Türkei stationierten US-Atombomben anzugreifen.
1961 wurde der erste Kernforschungsreaktor der Türkei in einem Vorort von Istanbul in Betrieb genommen. Die Regierung begab sich auf die Suche nach Uranvorkommen im Land.
Während wir bereits mehrfach Zeuge atomarer Katastrophen geworden sind (Tschernobyl 1986, Fukushima 2011), hat die Türkei ihre ganz eigenen Unfälle im Zusammenhang mit atomarem Müll erlebt: 1999 flog eine illegale Mülldeponie am Stadtrand von Istanbul mit radioaktiv verseuchtem medizinischen Material auf. 2012 entdeckte man in einer Fabrikanlage in der Nähe von Izmir eine illegale Atommülldeponie. Ende 2015 wurde bekannt, dass ein hoch radioaktives Schiff, ebenfalls in der Nähe von Izmir, von türkischen Werftarbeitern auseinander genommen wurde.
Unbeeindruckt von diesen Vorfällen, hielten alle türkische Regierungen an ihren atomaren Plänen fest. So versuchten türkische Politiker 1986, kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl, die Risiken atomarer Strahlung herunterzuspielen. Sie behaupteten, der Reaktorunfall in der ehemaligen Sowjetunion hätte keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung:
„Ein wenig Strahlung ist gut für Dich!“ (Industrie und Handelsminister Cahit Aral), „Radioaktiver Tee schmeckt besser!“ (Premierminister Turgut Özal), oder die Behauptung „Strahlung ist gut für die Knochen!“ (Staatspräsident Kenan Evren). Es überrascht kaum, dass die Reaktion auf die Katastrophe von Fukushima 2011 nur wenig anders ausfiel als 25 Jahre zuvor bei Tschernobyl. Der damalige Premier Recep Tayyip Erdoğan behauptete: „Der Propangestank in Eurer Küche ist genauso gefährlich wie Strahlung!“.
PR-Clips wie „Neue Energie für eine erstarkende Türkei“ sollen die türkische Öffentlichkeit heute überzeugen, dass der Energiehunger des Schwellenlandes nur durch Atomkraftwerke gestillt werden kann. Kernenergie sei die einzig verlässliche Stromquelle. Der amtierende Energieminister Berat Albayrak, Schwiegersohn und engster Berater des Staatspräsidenten, lässt keine Gelegenheit ungenutzt, diese energiepolitischen Pläne zu unterstreichen.
Bis 2023 (pünktlich zum hundertjährigen Bestehen der Republik) sollen in Sinop an der Schwarzmeerküste (beteiligte Firmen: Mitsubishi/Areva), als auch in Akkuyu an der Mittelmeerküste (beteiligte Firmen: Rosatom/Cengiz Holding) zwei AKWs gebaut werden. Der Bau für letztere soll im Frühjahr 2018 beginnen.
Die Türkei befindet sich somit in ihrer atomaren Geschichte an einem Scheideweg. Entweder setzt das Land wie Japan auf das teure Auslaufmodell Atomkraft, oder aber auf erneuerbare Energien- beispielhaft wäre die Energiewende Deutschlands. Letzteres würde der Türkei wohl wirtschaftlich günstiger und risikoärmer zu stehen kommen, da es dem Land an einem nicht fehlt: Sonne und Wind.
Nach einem Bericht der Generaldirektion für erneuerbare Energien beträgt die jährliche Sonnenzeit in der Türkei 2737 Stunden. Während die Türkei 860 Megawatt Solarstrom produziert, wird in Deutschland, wo im Jahr nur 1600 Stunden die Sonne scheint, 40.000 Megawatt Solarenergie gewonnen. Obwohl in Deutschland 60 Prozent weniger die Sonne scheint wird das 40-fache an Sonnenenergie produziert.
Die türkische Regierung macht im gesamten Land mit überdimensionalen Plakaten Werbung für die geplanten AKWs. Seit der Veröffentlichung der Pläne sind nicht nur Ökologen und Umweltaktivisten, sondern auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), welche regelmäßig die UN-Generalversammlung unterrichtet, alarmiert. Alle Stimmen verweisen auf die mangelhafte atomare Infrastruktur im Land.
Laut einer Meinungsumfrage von Greenpeace, kurz nach der Fukushima-Katastrophe durchgeführt, waren 64% der türkischen Bevölkerung klar gegen den Einstieg in die Kernenergie ihres Landes. Der Widerstand gegen die AKW-Pläne, deren Ursprünge bis zurück in die 1970er reichen, sind zumeist lokal initiierte Protestbewegungen der Anwohner.
Dem Regisseur Can Candan schwebte bereits seit seinem ersten Besuch in Akkuyu (bei Mersin) 1995 ein Dokumentarfilm zu dem Thema vor. Knapp 20 Jahre später sollen nun in „Nuclear alla Turca“ Gegner und Fürsprecher der türkischen Anti-Atombewegung zu Wort kommen.
Veranstaltung zum Thema im taz-Café am 07.11. 2017: “Der Traum von der Atomkraft“. Es diskutieren: Claudia Roth MdB Bündnis 90/ Die Grünen, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages; Can Candan, Regisseur des Dokumentarfilms in Arbeit „Nuclear alla Turca“; Filiz Yavuz, Autorin zum Thema Atomkraft in der Türkei; Christian Bergmann, Publizist und Produzent „Nuclear alla Turca“; Moderation Ebru Taşdemir, taz.gazete.
Mehr Infos zur Entstehung von „Nuclear alla Turca“.