Eine Reise nach Mesapotamien: Mardin, die Stadt der vielen Kulturen, Zivilisationen und ihren Geschichtenerzählern.
Auf dem zweiten Treffen der Märchenerzähler in Mardin – einer Stadt im Südosten der Türkei, die dafür bekannt ist, dass sie seit jeher vielen Kulturen und Zivilisationen ein Zuhause bietet – wurde das „Tor zur Wahrheit“ im Haus der Menschheit aufgestoßen. Denn nicht Geschichtsbücher, sondern Märchen erzählen die Wahrheit.
Im vergangenen Monat kamen im Städtischen Museum Mardin Erzählerinnen und Erzähler mit ihren mesopotamischen und anatolischen Märchen zusammen. Ihr Treffen, das in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfand, stand unter dem Motto „Tor zur Wahrheit“. In Häusern und Schulen, auf Dächern, Terrassen und in den Mauern des Museums wurden alte und neue Märchen unzähliger Völker erzählt: kasachische Märchen, aramäische Märchen, die Märchen nordamerikanischer Stämme.
Die Geschichten sind vereint in ihrer Suche nach der Wahrheit, um daraus den Schlüssel zum Tor derselben zu gießen. Eine Woche lang war Mardin ein Märchenland im Zeichen der Wahrheit.
Wenn sich Geschichtenerzähler treffen, fallen die Verpflichtungen der modernen Welt, die uns binden, allmählich ab, während du auf der Terrasse des Schreiner-Cafés im Kunsthandwerker-Basar von Mardin, der Perle des fruchtbaren Halbmonds, sitzt, den Blick weit über das zeitlose, unendliche Mesopotamien schweifen lässt, und dir die Stimme von Märchenerzähler Deniz Soruklu und Abu Burak im Ohr klingt, dem letzten der Şahmeran-Meister, die die alte Legende der Schlangenkönigin in Kupfer hämmern und unter Glas malen.
Şahmeran, eine mythische Figur, halb Frau halb Schlange, eine Göttin der Weisheit und Beschützerin von Geheimnissen, Königin der Schlangen, deren Geschichten in Anatolien, Iran und Irak sowie den kurdischen Gebieten verbreitet sind. Die Wege von Deniz Soruklu und Abu Burak, der beiden Märchenerzähler aus zwei unterschiedlichen Welten, treffen sich auf der Seidenstraße, die schon Jahrhunderte vor ihnen die Welten miteinander und mit Mesopotamien verband.
Deniz Soruklu und Abu Burak hatten, was uns heute geradezu verrückt vorkommt, den Weg von Antakya zum Treffen in Mardin zu Fuß zurückgelegt; in den Orten, durch die sie kamen, erzählten sie den Menschen die unterwegs gesammelten Geschichten und baten sie, ihnen als Gegenleistung ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Während sich in ihrem Korb die Geschichten von unterwegs mit dem Märchen von Lokman dem Weisen und seinem Sohn Camısan aus der uralten Şahmeran-Legende vermischt, leuchtet das Licht der Wahrheit auf und überstrahlt die finsteren, die Menschheit gefangen haltenden Alpträume.
Vertrauen und innere Ruhe werden gestärkt, die uralte Erde, Weisheit und Wissen all ihrer verschiedenen Menschen streichen dir über den Rücken. Die von riesigen Fata Morganas geschaffenen Lügenwelten lösen sich auf in Şahmerans Garten. Der Duft reifer Früchte schwebt heran und du fühlst dich, als verspürtest du zum ersten Mal Hunger. Dich überkommt Lebenslust und der Appetit, dein Leben in seiner Fülle zu erfahren und nur mit solchen Menschen zu teilen, die es verdient haben.
Ihre Absicht sei es, sagen die Märchenerzähler, dem in Alltagshektik, in engen Zwingen, in Hamsterrädern eingeklemmten, gequetschten, geschrumpften, sinnlos gewordenen Leben Atem einzuhauchen und zu einer neuen Stimme zu verhelfen. Sie wollen das immaterielle kulturelle Erbe der Menschheit, ihre Wahrheiten, ihr Wissen und ihre Weisheit, also unsere Menschheit an sich vor dem Verschwinden bewahren.
Sie wollen mit kleinen Geschichten von unten den einer Wolke gleich über uns dräuenden Nebel der alleinigen Erzählung der offiziellen Geschichtsschreibung vertreiben, unsere eigene vielstimmige Geschichte schreiben, auf Realitäten und Details aufmerksam machen, die in Vergessenheit gerieten oder darin versenkt wurden.
Vor allem aber wollen sie daran erinnern, dass alle Märchen, gleich ob auf Türkisch, Aramäisch, Armenisch, Kurmanci, Zazaki, Arabisch, Lasisch, Kasachisch, Englisch oder sonst einer Sprache erzählt, miteinander verwandt sind, dass aller Leben ein Gemeinsames ist. Sie wollen zeigen, dass die Wahrheit in der Sprache aller steckt. Denn bekanntermaßen haben Märchen, also die Wahrheit, keine Religion, keine Sprache, keine Nation, vor allem aber keinen Besitzer. Man weiß ja, dass Menschen vor allem jene fürchten und ihnen feindlich gesinnt sind, deren Geschichten sie nicht kennen. In Mardin erzählten die Menschen einander ihre Geschichten, um gemeinsame Bande zu knüpfen.
Märchen und Geschichten sind das erzählte Herz immateriellen kulturellen Erbes. Denn von den Orten und Menschen, von denen sie stammen, durch die Erfahrungen, von denen sie berichten, erhalten wir tiefe und wahrheitsgetreue Einblicke in Gesellschaften, in Natur, Kultur, Glauben, Alltag und Spiritualität. Auch sind es Märchen und Geschichten, die der offiziellen Geschichtsschreibung ernsthaft etwas entgegensetzen. Historische Wahrheiten dieser Art werden von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft durch das Sieb größter Sorgfalt und Weisheit tradiert.
So sagt dann auch der Künstler und Forscher Metin Kahraman in seiner Eröffnungsansprache: „Die mündliche Geschichtstradierung [also Märchen, Geschichten, Klagelieder und Epen] erfolgt nicht über eine Person als Träger, sondern über das Gedächtnis der Gesellschaft. Das mündliche Gedächtnis ist außerordentlich klar und wahr.“
Wahrheit braucht Mut
Märchen überliefern uns Wahrheiten, die uns zu Menschen machen. Güneşin Aydemir, die das Treffen in Mardin mitorganisiert hatte und als Märchenerzählerin teilnahm, definiert Märchen als „lehrreiche Geschichten, auf uns übertragene Fragmente von Erfahrungen, die Menschen in der Vergangenheit gemacht haben.“ In ihnen stecke Lebensweisheit: „Wie wird man ein guter Mensch, durch welche Handlungen tun wir Gutes oder Schlechtes? Wofür werden wir bestraft? Wie werden wir fertig mit dem, was uns widerfährt? Von solchen Dingen handeln Märchen.“ Märchen sind also Instrumente, die Wahrheiten der Vergangenheit beleuchten, um sie in die Zukunft zu transportieren.
Für Mardin als Ort des Märchentreffens sprachen viele Gründe, die wie Spinnwebenfäden miteinander verwoben sind. Mardin ist das Herz Mesopotamiens, Wiege der Zivilisation und uralter Weisheit. Mardin ist aber auch eine Treppe, die den modernen Menschen ins Heute führte. Nach Mardin zu kommen, bedeutet für all diejenigen Suchenden, die ihren Weg, ihre Hoffnung, ihre Energie verloren haben, etwas wie Rückkehr an den Ausgangspunkt, bedeutet Nach-Hause-kommen.
Mardin als Ort der Geschichtenerzähler ist auch eine Form des Protests dagegen, dass die Region mit den wieder aufgeflammten Konflikten erneut in einen blutigen, einsamen Alptraum gedrängt wird. Denn nach Mardin zu kommen, erfordert heutzutage eben solchen Mut, wie nach Wahrheit zu suchen.
Die Strahlkraft der Wahrheit, die die Märchenerzähler bei ihrer Zusammenkunft entstaubten und ihr neuen Glanz verliehen, erhellt die allseits zunehmende Finsternis, die auch Mardin erfasst hat. Denn die Tyrannen und die Herrschaft der Repression, die es in jedem Märchen gibt, sind heute wieder präsent in der Region.
Die Kämpfe und das Leid, die nach dem Scheitern der Friedensphase die Menschen erneut im Griff haben, fressen ihre Hoffnung, ihre Lebenskraft, ihre Lebensgrundlagen auf. Die zahllosen syrischen Migranten, die in die Stadt geflüchtet sind, weil sie nah der Grenze liegt, teilen dieses Schicksal und erleben nun ein zweites Mal ein Trauma.
Seit langem ist Mardin verzweifelt in stummer Not, in sich verschlossen. Die große historische Erzählung wollte die Wirklichkeit ignorieren, verbergen, verschleiern. Dagegen kamen hier nun etliche Erzähler mit ihren Märchen zusammen, die vom Guten erzählen, von Hoffnung, von Widerstand und Auflehnung, ohne die Wirklichkeit außerhalb der Geschichten außer Acht zu lassen, aber auch ohne sich an diese eine Realität allein zu klammern. Sie hörten zu und sie erzählten. Im Licht der Weisheit Anatoliens und Mesopotamiens reichten sie einander die Hände, schauten sich in die Augen und hielten die Wahrheit fest. Ihre Stimmen klingen bis an ferne Horizonte.
*Seit geraumer Zeit ist die Berichterstattung zur Türkei – unter der Ägide der gegenseitigen diplomatischen und politischen Anfeindungen zwischen Europa und der Türkei – geprägt von Stereotypen. Es gibt viele Geschichten, die sich dem widersetzen, die die Hoffnung als Maxime ausgeben, die sich aneinander klammernd auf den Beinen halten und in der Dunkelheit auf gut Glück nach dem Weg suchen. Die Türkei ist nicht Erdogan, und ich wünschte, wir würden eine Berichterstattung vorantreiben und Geschichten erzählen, die Erdogan, diplomatische Spielchen und verletzende politische Äußerungen außen vor lassen würden. Das wäre ein Beitrag zum Antidot/Gegengift.