Rechtsanwalt Veysel Ok war erst Anfang 20, als er das Mandat erhielt, den Schriftsteller Ahmet Altan zu verteidigen.
Als ich 2009 das Mandat für einen Autor bekam, den ich als Gymnasiast für seine Romane und Kolumnen bewundert hatte, war ich ein junger Anwalt Anfang 20. Verteidigen sollte ich den Angeklagten gegen einen Vorwurf, den wir mit der Begründung der Meinungsfreiheit ablehnten.
Am Tag der Verhandlung dachte ich lange darüber nach, ob ich eine Krawatte umlegen sollte oder nicht. Ich mochte keine Krawatten und entschied mich letztlich dagegen. Der Angeklagte, der Autor Ahmet Altan, erschien in einem moosgrünen Sakko mit dunkelgelber Cordhose und bunter Krawatte im Verhandlungssaal des Gerichtes in Kadiköy. Der Richter war im Pensionsalter und entsprechend ergraut. Stehend wartete mein Mandant, bis der Richter die Anklageschrift vorgelesen hatte.
Ich war extrem aufgeregt und ging im Stillen nochmal durch mein Plädoyer, das ich Tage zuvor vorbereitet hatte. Nachdem die Anklageschrift verlesen war, fragte der Richter den Angeklagten, was er zu seiner Verteidigung zu sagen habe. Der Autor begann, indem er zunächst einen Knopf an seinem Sakko schloss. Obwohl der Angeklagte eine Menge Repression und Unrecht über sich hatte ergehen lassen müssen, zollte er dem Gericht einen Respekt, der mich verblüffte. Sein Plädoyer war wie seine Kolumnen: Schlicht, pointiert und lehrreich. Mir war, als würde er mit dem, was er zu seiner Verteidigung vor Gericht sagte, ein literarisches Werk von bleibendem Wert schaffen. Während ich darauf wartete, sprechen zu dürfen, gab ich leise Laute von mir, um zu schauen, ob ich nicht einen Kloß im Hals hatte. Ich trank ununterbrochen Wasser, um meinen trockenen Mund zu befeuchten.
Dann war es so weit. Allerdings kam mir nach dem phantastischen Plädoyer meines Mandanten mein eigenes so bedeutungslos vor, dass meine Stimme versagte. Der Autor, der Richter, der Staatsanwalt und das Publikum schauten mich an. Aber ich brachte keinen Ton heraus.
Endlich irgendwann hüstelte und stammelte ich mich frei, bis die Stimmbänder gehorchten. Aber einen Meisterschriftsteller für einen von ihm verfassten Artikel zu verteidigen, ergab keinen Sinn mehr. Unzählige Gedanken purzelten mir durch den Kopf, unzählige Blicke lagen auf mir. Und ich brachte genau einen Satz heraus. Er lautete: “Ich schließe mich den Ausführungen meines Mandanten an.“
Bis 2017 war ich der Anwalt dieses Autors, und wir sind zusammen durch Dutzende von Strafverfahren gegangen. Einmal fragte ich ihn etwas unverschämt: “Sie ziehen zu jeder mündlichen Verhandlung das gleiche Sakko und die gleiche Krawatte an, oder?“ Er lachte und sagte, es sei seine “Gerichtsuniform“. Vor der Justiz in Sakko und Schlips zu erscheinen, sei eine Familientradition. Ahmet Altans Vater, Çetin Altan, hatte als Publizist und Politiker regelmäßig Gerichtssäle und Gefängniszellen von innen gesehen. Aber was auch immer die Justiz einem antat, ihr gegenüber müsse man respektvoll bleiben, sagte Ahmet Altan. Seine Plädoyers waren Widerspruch, Literatur und ein Ozean freien Denkens. Im Laufe der Jahre lernte ich, mich nicht nur den Ausführungen meines Mandanten anzuschließen, sondern auch neue, eigene Worte zu sprechen.
Im Sommer 2016 fand in der Türkei bekanntermaßen ein Putschversuch statt und Dutzende von Journalist*innen und Schriftsteller*innen wurden inhaftiert. Als Anwalt hatte man ziemlich ziemlich viel zu tun. Trotzdem entschloss ich mich, meinen geplanten Urlaub im September nicht abzusagen, auch wenn Ahmet Altan inzwischen zu einem Angriffsziel der Medien geworden war. Ich fuhr nach Rhodos.
An einem wunderbaren Septemberabend kamen wir auf der Insel an. Wir hatten ein wunderbares griechisches Abendessen und gingen dann ins Hotel. Mein Zimmergenosse schlief sofort ein und um ihn nicht zu stören, stellte ich mein Telefon vermutlich zum ersten Mal seit Jahren lautlos. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich über einhundert verpasste Anrufe und Dutzende von Nachrichten. Ich wühlte mich durch und fand die Mitteilung, dass mein Mandant in der Nacht festgenommen worden war.
Es war der kürzeste Urlaub meines Lebens. Ohne das Meer zu sehen verließ ich Rhodos. Nach 12 Tagen Polizeihaft kam Ahmet Altan in Untersuchungshaft. Einige Artikel vom Februar 2016 und ein Auftritt in einer Fernsehtalkshow wurden als Begründung angeführt und eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe gefordert.
Am 16. Februar 2018 wurde Altan rechtskräftig verurteilt. Die Tatsache, dass er die Machthaber kritisiert und Demokratie gefordert hatte, dass er ausgehend von historischen Beispielen für das Verhältnis zwischen Militär und ziviler Politik in der Türkei, die Regierung öffentlich vor einem möglichen Eingreifen der Militärs gewarnt hatte, wurde ihm so ausgelegt, dass er in die Putschpläne eingeweiht gewesen sein musste und folglich die schwerste Strafe verdiente, die das türkische Justizsystem vorsieht.
Wenn Sie mehrere tausend Menschen ermorden und mit Kampfflugzeugen Wohngebiete bombardieren, sieht das türkische Recht genau die Strafe vor, die Ahmet Altan jetzt bekommen hat.
Wenn Sie sich über Jahrzehnte hinweg für Demokratie einsetzen und als freiheitlicher Gegner verschiedener Militärjuntas exponieren, dann wird der Staat es ihnen vergelten. So ist Ahmet Altan für die kemalistische Riege im Staatsapparat ein Feind und für die islamistische Riege genauso. Er ist einer, der sie überfordert, weil sie nicht wissen, wie sie mit ihm fertig werden sollen. Denn Ahmet Altan hat es in seinem Plädoyer nicht versäumt, nach beiden Seiten hin auszuteilen. Er ist keinen Schritt von seinen Idealen abgewichen.
Ein besonders schwerer Fall von Zorn und Rachsucht der Richter hat in seinem Fall zu einer widersinnigen, unverhältnismäßigen und harten Strafe geführt. Diejenigen, die ihm diese Strafe verpasst haben, mögen denken, dass sie gesiegt haben, aber sie irren sich gewaltig.
Wenn jemand dieses Verfahren gewonnen hat, dann ist es Ahmet Altan. Er hat seine Stimme und sein Wort an die Weltöffentlichkeit gerichtet und das Unrecht dieser sinnlosen Strafe offensichtlich gemacht.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wird am 20. März über die Einzelbeschwerde von Ahmet Altans Bruder, Mehmet Altan, der ebenfalls zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde, entscheiden. Das Gericht wird voraussichtlich der Meinung sein, dass die Inhaftierung Altans einen Verstoß gegen die Konventionsrechte darstellt und der Türkei auftragen, ihn freizulassen.
Sowohl Mehmet als auch Ahmet Altan werden ihre Freiheit wiedererlangen, selbst wenn die Türkei sich entscheidet, den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht anzuerkennen und sich damit vollständig außerhalb des europäischen Wertesystems zu begeben. Wenn die Brüder Mehmet und Ahmet Altan weiter im Gefängnis bleiben werden, beudetet das für uns zwar zunächst die Ausschöpfung aller Rechtswege. Aber für den Autor würde sich nichts ändern. Warum? Ich schließe mich seinen Ausführungen an: “Ihr könnt einen Autor ins Gefängnis werfen, aber ihr könnt ihn nicht im Gefängnis halten.“
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny