Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
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Die inhaftierte Studentin İdil Aydınoğlu wird 2012 von der Gendarmerie zu ihrer Prüfung begleitet

Eine neue Eskalationsstufe

Zu Beginn der AKP-Regierung saßen insgesamt 60.000 Menschen im Gefängnis. Ende 2016 waren fast 70.000 Studierende in der Türkei inhaftiert.

İRFAN AKTAN, 2018-04-03

„Das sind terroristische junge Leute. Wir stellen alles Mögliche an in Bezug auf diese jungen Terroristen. Wir werden diesen jungen Menschen nicht erlauben, an den Universitäten zu studieren.“ Mit diesen Worten machte Staatspräsident Erdoğan am 24. März Student*innen der Boğaziçi Universität zur Zielscheibe, die gegen die Aktion einer nationalistischen Studierendengruppe protestiert hatte.

Als auf dem Nordcampus der Bosporus-Universität am 19. Mai eine Gruppe einen Stand aufgestellt und Lokum verteilt hatte, um die Einnahme Afrins durch die türkische Armee und verbündete dschihadistische Einheiten zu feiern, protestierten Studierende dagegen mit einem Plakat: „Okkupation und Massaker verdienen kein Lokum“. Am Morgen nach Erdoğans Statement stürmte Polizei die Wohnheime auf dem Campus und nahm eine Reihe Studierende fest. Falls Haftbefehl gegen sie ergeht, können sie nicht weiterstudieren.

Der am 20. Juli 2016 landesweit verhängte Ausnahmezustand nahm inhaftierten Schüler*innen und Student*innen das Recht auf Studium und Weiterbildung. Dekret 677, am 22. November 2016 mit Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft getreten, untersagte allen im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes angeklagten Studierenden, Prüfungen abzulegen.

Im Bericht der dem Justizministerium unterstellten Generaldirektion Straf- und Vollzugsanstalten von 2016 heißt es, 1.096 Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge setzten ein zweijähriges Hochschulstudium fort, 269 das vierjährige Studium an einer Fakultät, 371 ihr Master- und 143 ihr Promotionsstudium. Diese 2.379 Studierenden machen aber nicht einmal zwei Prozent der inhaftierten Studierenden aus.

Fast 70.000 Studierende sitzen hinter Gittern

In einer Antwort auf die Anfrage der CHP-Abgeordneten Gamze Akkuş İlgezdi, wie viele Student*innen Ende 2016 inhaftiert seien, gab das Justizministerium an, 69.301 Studierende befänden sich in Haft. In seiner Antwort vom 21. August 2017 erklärte das Ministerium, Ende 2016 hätten insgesamt 36.033 Schüler*innen und Student*innen von Gymnasien und gleichwertigen Schulen sowie im Vor- und Diplomstudium sowie 33.268 Teilnehmer*innen von Fernschul- und Fernstudiengängen in Straf- oder Untersuchungshaft gesessen.

Als die AKP 2002 an die Macht kam, waren insgesamt 59.429 Personen in türkischen Gefängnissen inhaftiert. Nach Angaben der Generaldirektion Straf- und Vollzugsanstalten stieg diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren um 121,8 Prozent, die Anzahl der Gefängnisse um 52 Prozent. Den Daten zufolge erhöhte sich die Anzahl der Inhaftierten innerhalb der vergangenen zehn Jahre auf 228.983 Personen. Ende 2016 war die Anzahl der inhaftierten Studierenden also höher als die Gesamtanzahl aller Straf- und Untersuchungsgefangenen 2002.

Die massiven Repressalien gegen Studierende ließen natürlich auch neue Solidaritätsnetzwerke entstehen. Das 2015 gegründete Solidaritätsnetzwerk für Inhaftierte Studierende TÖDA macht als größtes dieser Art auf die Situation inhaftierter Studierender aufmerksam und setzt sich für die Lösung ihrer Probleme ein.

Viyan Kınalı, TÖDA-Aktivistin und Studentin der Juristischen Fakultät Ankara, sagt, TÖDA habe sich nach der Gründung in Istanbul auch in Ankara organisiert, hier engagieren sich ehrenamtlich tätige Studierende, Akademiker*innen, Anwält*innen und Aktivist*innen. Die Tätigkeit des Verbands beschreibt sie folgendermaßen: „Den Studierenden in den Knästen eine Stimme geben, bei ihren Prozessen als Beobachter*innen dabei zu sein, sich um die Familien kümmern, Korrespondenzen führen. Wir haben eine Liste mit rund 400 Studierenden, auf denen steht, wo sie studieren und wo sie inhaftiert sind. Über diese Liste versuchen wir, auch die anderen inhaftierten Studierenden zu erreichen.“

Solidarität gegen Repression, Repression gegen Solidarität

Kınalı betont, Dekret 677 mit seinen Bestimmungen zu Studierenden habe bereits zuvor bestehende Probleme zum Dauerzustand gemacht. Auch vor dem Dekret sei die Lage nicht rosig gewesen. Sie erzählt, vorher hätten die größten Probleme darin bestanden, dass Universitätsverwaltungen Prüfungsmeldungen inhaftierter Studierender nicht zuließen, dass für Zugelassene Gebühren für den Transport zur Prüfung nicht abgerechnet wurden, oder jene, die auch dafür eine Lösung fanden, das Material zur Prüfungsvorbereitung nicht bekamen.

„Die Anstaltskommission lehnte Meldungen unter dem Vorwand ab, die Aufzeichnungen nicht zu verstehen. Noch bevor Anklageschriften vorlagen, wurden Studierende von ihren Universitäten als Verbrecher behandelt und exmatrikuliert. Generell stellten sich die Universitäten nicht hinter ihre Studierenden. Wenn man exmatrikuliert wurde, konnte man nicht einmal nach der Freilassung weiterstudieren.“

Die Wohnheimkreditanstalt warf Studierende hinaus, wenn sie inhaftiert wurden, und stornierte ihre Stipendien. Damit standen sie buchstäblich auf der Straße, wenn sie freikamen, erläutert Kınalı und sagt, für die Betroffenen setzten sich auch nach der Freilassung die Haftumstände fort. Der Hauptgrund für die Inhaftierungen ist den Erhebungen von TÖDA zufolge in den vergangenen Jahren der Vorwurf der „Beleidigung des Staatspräsidenten“. Die kleinste Erdoğan-Kritik in den sozialen Medien könne Studierende Monate oder sogar Jahre kosten.

Weitere Gründe für Verhaftung von Studierenden können die Beteiligung an 1. Mai-Kundgebungen oder –Presseerklärungen, Halay tanzen, Gedenken für umgekommene Freund*innen, Gedichtrezitation oder Öffentlichkeitsarbeit zum Referendum sein. Natürlich kann auch die Solidaritätsarbeit für inhaftierte Studierende zu Repressalien und Festnahme führen. Kınalı berichtet, die Familien unzähliger Kommiliton*innen, auch ihre eigene, erhielten Anrufe von der Polizei, die mit Aussagen wie „Ihr Kind ist an terroristischen Umtrieben beteiligt“ für Unruhe sorge. Die Familien setzten dann häufig ihre studierenden Kinder gleich nach der Freilassung unter Druck. Manche hinderten sie am Weiterstudium oder drängten sie, am Wohnort der Familie zu studieren. „Das heißt“, resümiert Kınalı, „von allen Seiten, angefangen von den Familien bis zu Hochschulen, Rechtswesen und Gefängnis wird massiver Druck ausgeübt.“

Da Dekret 677 weiter in Kraft ist, werden die verfassungsmäßig garantierten Rechte studierender politischer Gefangener weiter verletzt. Für Zehntausende Studierende in Haft sind Studium und Weiterbildung damit nur noch ein Traum. Erdoğans jüngste Erklärung, diesen „terroristischen jungen Leuten“ nicht zu erlauben zu studieren, deutet über die bestehenden strukturellen Probleme hinaus auf eine neue Eskalationsstufe hin.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

İRFAN AKTAN, 2018-04-03
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