Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
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Hört der Tischnachbar mit?

Kreuzberg ist nicht Klein-Istanbul

Unsere Kolumnistin ist jetzt eine Berlinerin. In der Hauptstadt ist vieles anders als in Istanbul, aber eins gibt es hier wie dort: die Spitzel Erdoğans.

MICHELLE DEMISHEVICH, 2018-04-20

Ich bin jetzt eine Berlinerin. Wie viele andere musste ich Istanbul aus den hinlänglich bekannten Gründen verlassen. Nachdem ich sechs Monate in Leipzig gelebt habe, wohne ich nun offiziell in der Hauptstadt.

Was die Einwohnerzahl angeht, ist Berlin kleiner als Istanbul, aber als Metropole ist Berlin Istanbul um einiges voraus. Berlin ist eine echte Weltstadt. In Kreuzberg, dem “Klein-Istanbul“, wo viele Berliner Türk*innen leben, findet man in türkischen Cafés und Supermärkten alles, was man als Zugezogene vermisst. Meistens treffen wir uns hier, wohl aus Heimweh. Aber als Istanbulerin muss ich doch eins sagen: Kreuzberg ist nicht Klein-Istanbul. Mich erinnert Kreuzberg mit seinen Dönerläden eher an eine südostanatolische Stadt.

Neulich habe ich mich mit einem alten Freund aus Istanbul verabredet. Natürlich in Kreuzberg, in einem türkischen Café – wo sonst? Wir sitzen also bei Çay und Simit mit Schafskäse zusammen und sind so in den Gossip über den alltäglichen Wahnsinn in der Türkei vertieft – Festnahmen! Medien! Tayyip! Gülenisten! Kurden! und so weiter – dass wir schon unseren dritten Çay leeren. Im Gespräch checke ich aus einem typischen Journalistenreflex heraus die Umgebung ab. Kaum, dass ich mich umdrehe – oh my god, du glaubst es nicht – sitzt am Nebentisch ein türkischer Mann und nimmt mit seinem Handy unser Gespräch auf.

Denunziert als „Vaterlandsverräter“

Ich war fassungslos. In Istanbul war ich an diese Spitzel gewöhnt, aber dass mir sowas in Berlin passiert, hätte ich nicht erwartet. Weil ich meinen Freund nicht beunruhigen wollte, habe ich erstmal nichts gesagt und das Thema gewechselt. Als er auf die Toilette ging, habe ich meine Contenance einer Pariserin abgelegt und den widerwärtigen Kerl zur Rede gestellt. “Was machst du da, lan?“, habe ich ihn auf Türkisch gefragt. Wahrscheinlich hat er so eine Reaktion von mir nicht erwartet. Ich hab ihm wohl ein bisschen Angst eingejagt, jedenfalls ist er aufgestanden und rausgerannt.

Was hatte dieser Vorfall zu bedeuten? Ich versuche immer noch, das zu verstehen. Mir fielen die Osmanen Germania ein, und die Imame in den Ditib-Moscheen, die regelrecht für die AKP-Regierung spionieren. Die denken wohl, dass sie damit ihrem “Vaterland“ einen Dienst erweisen. So, wie Regierungsgegner*innen in der Türkei pauschal zu “Terroristen“ erklärt werden, werden sie, wenn sie vor diesem System nach Deutschland geflüchtet sind, hier als “Vaterlandsverräter“ denunziert und den türkischen Behörden gemeldet.

Kreuzberg ist nicht “Klein-Istanbul“, es ist “Klein-Tayyipistan“. Meine Freude, jetzt eine Berlinerin zu sein, ist der Verunsicherung gewichen. Haben nicht alle gesagt, dass wir hier sicher sind? Ab jetzt muss ich besser aufpassen. Nicht Türkisch reden, wenn ich nicht unbedingt muss. Ich bin nach Berlin gekommen, um durchzuatmen und zu schreiben. Jetzt bin ich hier genauso nervös wie in Istanbul. Ich hoffe, dass dieser absurde Zustand nicht von Dauer ist und ich mich an Berlin gewöhne – und Berlin sich an mich.

MICHELLE DEMISHEVICH, 2018-04-20
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