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Der Protagonist in „Die Tränen des Propheten“ hat es schwerer als Jesus oder Muhammad

„Selbstzensur ist der Tod des Autors“

In Yavuz Ekincis neuem Roman glaubt die Hauptfigur, ein Prophet zu sein. Ein Gespräch über kurdische Literatur, Twitter und das virale Spektakel.

JANA VOLKMANN, 2019-11-12

Mehdi, die Hauptfigur in Yavuz Ekincis neuem Roman „Die Tränen des Propheten“, ist ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnlichen Sorgen: Er hat eine kleine Familie, ein hartnäckiges Hühnerauge und zu wenig Follower auf Twitter. Dann erscheint Mehdi der Erzengel Gabriel. Fortan geht er als Prophet durch die große Stadt, in der er lebt. Nur will niemand von ihm gerettet werden – dabei hätte die Welt es bitter nötig.

Yavuz Ekinci lebt in Batman und Istanbul. Seine Romane erscheinen in der Türkei beim renommierten Verlag Doğan. In deutscher Sprache sind zwei Romane in der Übersetzung von Oliver Kontny im Kunstmann-Verlag erschienen. Wir haben mit ihm über die Herausforderung, heute Prophet zu sein, über soziale Medien und über kurdische Literatur gesprochen.

Taz.gazete: Herr Ekinci, der Protagonist Ihres neuen Romans glaubt, Prophet zu sein. Sie erzählen Mehdis Geschichte in einem Wirrwarr von Schmerz, Gewalt und groteskem Humor. War es schwierig, das Gleichgewicht zu finden?

Yavuz Ekinci: Es war eine Gratwanderung. Mehdi ist in vielerlei Hinsicht eine Parodie historischer Prophetenfiguren, aber er ist auch Zeitzeuge und so etwas wie das Gewissen unserer Gegenwart. Alle historischen Propheten hatten jemanden, der oder dem sie sich anvertrauen konnten, nachdem sie berufen waren – Muhammed hatte seine Frau Khadija und Jesus seine Jünger. Aber Mehdi als heutiger Mensch hat diese Möglichkeit nicht. Das erzählt etwas über die Lebensbedingungen in unserer Zeit. Als Mehdi seiner Frau erzählt, dass ihm der Erzengel Gabriel erschienen ist, wirft sie ihm vor, schizophren zu sein und damit ist das Thema für sie durch.

Ein Prophet also, dem niemand zuhört?

Mehdi ist ein sozial scheuer Mensch und der Friseur, der Bäcker und der Fischhändler sind die Personen, zu denen er am meisten Kontakt hat. Er versucht, sich ihnen zu erklären, und natürlich entsteht daraus eine komische Situation. Denn Mehdi ist im Grunde komplett hilflos. Er hat auch keine Lösungen für die brennenden Probleme unseres Zeitalters, er ist nicht anders als Sie und ich. Das macht ihn zu einer zutiefst seltsamen Figur. Es war nicht einfach, diese fragile Balance zwischen Parodie und Zeugenschaft aufrechtzuerhalten.

Was sagt das über die heutige Zeit aus?

Mehdi, der Prophet, ist eigentlich ein Symbol. Er sieht alles, aber kann nichts verändern. Er windet sich in seiner Ohnmacht, so wie Tausende von Menschen, die heute sehen, wie die Welt sich in eine ganz schlechte Richtung verändert. Mehdi verwendet Twitter, um seine tiefgründigen Ansichten über das Leben zu verbreiten, bekommt aber wenig Reaktion. Auch, als er Leute von seinem Prophetendasein überzeugen will, hat er keinen großen Erfolg.

Machen soziale Medien es einfacher, Botschaften zu verbreiten und mit Menschen ins Gespräch zu kommen?

Soziale Medien werden immer wichtiger in unserem Leben. Was wir denken, teilen wir über Twitter. Was wir sehen, zeigen wir auf Instagram. Was wir gern hören, teilen wir über Musikplattformen. Diese Dienste werden weniger für zwischenmenschliche Dialoge benutzt, sondern vielmehr, um sich selbst zu präsentieren. Also im Prinzip, um sich zu offenbaren. Mächtige Staatspräsidenten verkünden ihre Stellungnahmen zu diplomatischen Fragen über Twitter, Firmenriesen machen ihre Öffentlichkeitsarbeit über soziale Medien.

Welche Rolle spielen soziale Medien in der Türkei?

In der Türkei gibt es Zeitungen und sogar TV-Formate, die soziale Medien als Nachrichtenquellen nutzen. Denn die traditionellen Medien sind in ideologische Lager gespalten. Ich sehe durchaus, dass soziale Medien ein gewisses Manipulationspotential haben. Aber die etablierten Medien in der Türkei werden leider noch sehr viel stärker manipuliert. Zeitungen werden geschlossen, Journalist*innen entlassen oder aufgrund ihrer Arbeit inhaftiert. Allein schon deshalb sind wir in der Türkei in den letzten Jahren darauf angewiesen, unsere Informationen aus den sozialen Medien zu bekommen. Das heißt aber nicht, dass soziale Medien dabei helfen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

Ob man Prophet ist oder nicht hat also keine unmittelbare Auswirkung auf die eigene Reichweite?

Man kann potentiell weltbewegende Gedanken absondern – wenn niemand sie anklickt, verschwinden sie in den Weiten des Weltalls. Man existiert so weit, wie man Follower hat. Mehdi – der wie gesagt ebensosehr ein Symbol ist wie eine Person – ist komplett hilflos im Umgang mit den sozialen Medien, das ist für ihn ein großes Dilemma. Wenn jemand heute mit dem Anspruch auftritt, Prophet zu sein, werden die meisten Leute erst einmal schauen, wie viele Follower er oder sie hat. Wie viele Retweets und Likes gibt es? Das war für Moses, Jesus und Muhammad leichter. Dank Gottes Eingreifen konnten sie per Wunder sämtliche Probleme lösen. Aber welche Art Wunder können wir von den sozialen Medien erwarten? Es ist heute sehr herausfordernd, Prophet zu sein.

Gegen Ende des Romans wird Mehdi in einer Bar verprügelt. Die Aufnahmen dieses Vorfalls gehen viral und er wird zu einem Online-Phänomen. Was sagt das über die Reaktionsschemata der heutigen Menschen in densozialen Medien?

Mehdi ist für die Propheten das, was Don Quichote für das Rittertum war. Man weiß nicht genau, wer das Opfer und wer der Held ist. Die Impulskraft des Viralen ergibt sich eher aus der Form als aus dem Inhalt. Es ist unerheblich, ob Opfer oder Täter gezeigt werden, ob die Leute die Inhalte wunderbar oder ekelerregend finden. Was ich daran gefährlich finde, ist, dass das Ethische und Politische hinter das Spektakel des Viralen zurücktritt. Die Menschen werden von der bloßen Form des Sichtbarwerdens beeinflusst. Nach kurzer Zeit vergessen sie die Inhalte und erregen sich über etwas Neues. Es ist im Prinzip also egal, ob Mehdi von den Massen gefeiert oder verlacht wird, sein Auftritt wird in dem Maße viral, wie er in die Schemata der sozialen Medien reinpasst.

Mehdi kam mir trotz seiner Vorliebe für neue Technologien oft sehr zeit- und alterslos vor. Was ist er eigentlich: ein tragischer Held, ein Verrückter? Oder einfach jemand, der zu viel Empathie empfindet?

Mehdi registriert alles, was um ihn herum geschieht, aber er kann sich den Menschen nicht vermitteln. Ihre Ohren sind ihm gegenüber taub und ihre Augen blind. Er leidet darunter, sich nicht ausdrücken zu können und nichts Kreatives zu produzieren. Vielleicht ist er gar schizophren, wie seine Frau sagt. Immerhin erklärt er den Gewerbetreibenden aus seinem Viertel, dass ihm Gabriel erschienen sei und ihn zum Propheten ernannt habe. Dann will er sich der Handvoll Menschen mitteilen, mit denen er in den sozialen Medien vernetzt ist. Sein Hühnerauge ist seine stärkste Verbindung zum echten Leben. Darüber kann er mit anderen kommunizieren: Er will es behandeln lassen und klagt über Schmerzen. Diese Wunde ist etwas Persönliches. Ich würde sagen, Mehdi empfindet zu viel Empathie. Er ist weder ein tragischer Held noch ein Verrückter, sondern wie wir alle ohnmächtig gegenüber dem, was in unserer Welt passiert.

Können Sie aus Ihrer Sicht kurz beschreiben, wie es ist, in der Türkei zu schreiben und zu veröffentlichen – wie ist die Situation für Autor*innen derzeit?

Said Nursi sagte: “Ich kann ohne Brot leben aber nicht ohne Freiheit.“ Die Türkei wird Tag um Tag autoritärer. Menschenrechte, Grundfreiheiten, das Recht auf Leben und die Gerechtigkeitsgefühle der Menschen sind ernsthaft in Gefahr. Unsere Freiräume werden jeden Tag enger. Aber vor 40 Jahren war es auch nicht anders. Die türkische Literaturgeschichte ist voller Autor*innen, die im Gefängnis saßen. Festnahmen, Ermittlungen und Verfahren sind für Schriftsteller*innen Alltagserfahrungen. Wenn man eine Anthologie über Gefängnisliteratur herausgeben würde, hätte man die besten Namen der türkischen Lyrik und Prosa. Und in Zeiten wie diesen, wo es kaum noch gesellschaftliche Freiräume gibt, bekommt das Schreiben ja auch nochmal eine andere Bedeutung. Ich glaube, der wirkliche Tod eine*r Autor*in ist die Selbstzensur. Das ist Kapitulation, das ist das Ende jeder Produktivität. Und ich fürchte, das wird die größte Bedrohung für Literatur in den kommenden Jahren, dass sich Autor*innen unter dem Druck der Verhältnisse der Selbstzensur beugen.

Sie veröffentlichen als Herausgeber auch andere kurdische Autor*innen. Wie würden Sie die Gemeinschaft kurdischer Schriftsteller*innen beschreiben? Gibt es viel Solidarität und gegenseitige Unterstützung?

Es gibt viel gegenseitige Unterstützung und gleichzeitig zu wenig. Die Solidarität unter den kurdischen Autor*innen in der Türkei ist sehr stark. Aber es gibt kaum Austausch mit den kurdischen Autor*innen im Iran, Irak, Syrien und Armenien und in der weltweiten Diaspora. Insgesamt ist die Vernetzung noch sehr schwach. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Siedlungsgebiete der Kurd*innen unter vier Staaten aufgeteilt. Kurdische Autor*innen schreiben in drei verschiedenen Alphabeten. Es gibt kaum gemeinsame Institutionen oder etablierte Verlage. Die Sprache und die Kultur sind Gegenstand staatlicher Repressionen. Der Avesta-Verlag, der meine Bücher auf Kurdisch verlegt, hat in den letzten zwei Jahren mit mehreren Gerichtsurteilen zu kämpfen, die den Vertrieb ihrer Bücher untersagen.

Es gibt nur wenige kurdische Autor*innen, die ins Deutsche übersetzt werden. Wie sehen Sie Ihre Rolle als kurdischer Schriftsteller mit internationalem Publikum?

Es ist nicht einfach, Kurde zu sein. Noch schwerer ist es, kurdischer Autor zu sein. Meine einzige Rolle ist zu schreiben. Wenn ich mich mit meinem Gewissen auseinandersetze, dann tue ich das nicht unter dem Etikett kurdischer Autor, auch nicht in dem Glauben, ich sei einfach nur Schriftsteller, sondern ich tue das als Mensch. Es kommt vor, dass meine Geschichten als spezifisch kurdisch gelesen werden, oder dass man von mir erwartet, mich wie ein Politiker zu äußern. Aber ich schreibe weder als Augenzeuge, noch als Politiker über die Kriege, die wir erleben. Ich versuche zu verstehen, welche Wunden diese Gewalt in die Seele der Menschen reißt. Damit bin ich nicht ein Autor des kurdischen Volkes, sondern jemand, der die Geschichten aller Menschen erzählt, die Vergleichbares erlebt haben. Ich bin Mehdi, der an allem leidet, was um ihn herum geschieht, und noch dazu an seiner Ohnmacht leidet, das Gesehene angemessen zu erzählen. Dem die Menschen lieber davonlaufen als ihm zuzuhören.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

JANA VOLKMANN, 2019-11-12
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