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Grab von Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten durch Polizeigewalt ums Leben kam.

„Sogar der Schmerz wird politisiert“

Warum die türkische Regierung jeden gewaltsamen Tod zum Schicksalsschlag verklärt. Interview mit einer Trauerbegleiterin.

KUTLU ESENDEMIR, 2017-06-02

Vor 15 Jahren verlor die Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Şengül Hablemitoğlu bei einem Attentat ihren Ehemann. In der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schmerz erkannte sie, wie schwer es im Trauerland Türkei vielen fällt, mit dem Tod von nahestehenden Personen umzugehen. Heute ist sie an dem nach ihrem Mann benannten Beratungszentrum als zertifizierte Trauerbegleiterin tätig.

taz: Frau Hablemitoğlu, was ist Trauerbegleitung?

Şengül Hablemitoğlu: Eine notwendige professionelle Dienstleistung, die in einem Land wie dem unseren eigentlich flächendeckend angeboten werden sollte. In der Türkei vergeht kein Tag, an dem nicht über Tod und Verlust gesprochen wird. Mit verschiedenen Grundsätzen und Methoden unterstütze ich Hinterbliebene dabei, ihre unvollendet gebliebene Beziehung zu einem Verstorbenen abzuschließen und Abschied zu nehmen. Es gibt bestimmte Aufgaben in der Trauerphase, die abgearbeitet werden müssen, um die Phase zu überwinden, sonst kommt man aus der Trauer nicht heraus.

Wer wendet sich an Sie?

Menschen jeder Altersgruppe, die trauern. Frauen, Männer, Kinder, Alte und Jugendliche, getrauert wird um jede Art von Verlust. Die Trauerbegleitung hat zum Ziel, die Realität des Todes, die dem Schmerz des Betroffenen zugrunde liegt, zu begreifen und damit leben zu lernen, dem Verlust einen Sinn zu geben und ihn zu überwinden.

Hatte der Tod Ihres Mannes etwas damit zu tun, dass Sie sich diesem Gebiet zugewandt haben?

Aufgrund meiner persönlichen Situation habe ich mich ab 2004 auf diesem Gebiet im Ausland fortgebildet. Ich merkte, dass dies der einzige Weg war, um wieder auf die Beine zu kommen. In der Türkei gab es damals zu diesem Thema so gut wie keine Publikationen. Ich dachte, dass es einen ‚Weg zur Heilung‘ geben muss, denn ich war gewissermaßen krank. Diesen Weg wollte ich lernen und obendrein an andere weitergeben.

Mitte Mai war der Jahrestag des Bergwerkunfalls von Soma, bei dem 301 Bergarbeiter ums Leben gekommen sind. Während die Hinterbliebenen eine Kundgebung veranstalteten, um ihrer Angehörigen zu gedenken und ihre Rechte einzufordern, ließ der Staat überall in der Stadt den Koran rezitieren. Was bedeutet das?

Dass an Todestagen aus dem Koran rezitiert wird, ist Glaubenssache. Das ist kein Problem. Aber der Staat tut das, um eine traditionelle Pflicht zu erfüllen, und tritt dann beiseite. Er mag es nicht, wenn beim Totengedenken auch die legitimen Rechte der Hinterbliebenen eingefordert werden.

Kann der Glauben dabei helfen, den Schmerz zu lindern?

Nein, der Glauben kann das Leid nur unterdrücken und für eine Weile die Kraft geben, es zu ertragen. Doch er genügt nicht, wenn mit der Zeit ins Bewusstsein dringt, dass der Verlust von Dauer ist.

Der Staat hat die Menschen, die in Soma ums Leben kamen, zu Märtyrern erklärt. Hat der Märtyrerbegriff etwas mit Trauer zu tun?

Ja sicher. Zum Beispiel nennen wir die Wirkung der Zeit, die für eine Mutter verstreicht, bis ihr Sohn vom Wehrdienst heimkommt, „Trauererwartungssyndrom“. Märtyrertum heißt ja eigentlich potenzieller Tod. Aber ich spreche vom Militärdienst, das muss betont werden. Inzwischen wurde der Märtyrerbegriff ja regelrecht ausgehöhlt, da er inflationär und missbräuchlich verwendet wird.

Was soll das bezwecken?

Damit wird verhindert, dass die Art und Weise des Todes und die Todesursache hinterfragt und aufgearbeitet werden können. Wenn Sie jeden zum Märtyrer erklären, kleine Kinder, die wegen Fahrlässigkeit verbrennen, oder Landarbeiter, die beim Transport auf einer Lkw-Ladefläche bei einem Arbeitsunfall umkommen, nehmen Sie der Mutter, deren Sohn beim Militär ums Leben kommt, die einzige Kraft, den Schmerz zu ertragen.

Staatspräsident Erdoğan sagt häufig: „Wir nehmen den Tod in Kauf“. Was halten Sie davon?

Also, ich kann mit solchen Sprüchen nichts anfangen. „Inkaufnehmen“ ist leicht gesagt. Niemand wird von so vielen Bodyguards beschützt, wie der Präsident. Weder Sie noch ich fahren in gepanzerten Fahrzeugen durch das Land.

Diese Woche jähren sich die Gezi-Proteste zum vierten Mal, der damalige Ministerpräsident ließ bei einer Großkundgebung Gülsüm Elvan, die Mutter des von der Polizei im Widerstand getöteten Berkin Elvan, ausbuhen.

Das ist eine schreckliche Erinnerung. In diesem Land vereint uns nicht einmal der Kummer um den Tod eines Kind. Alle prügeln mit dem Schmerz aufeinander ein. Denn unser Schmerz ist unser schwacher Punkt. Deshalb benutzen wir den Trauerschmerz als politischen Triumph, statt ihn miteinander zu teilen. Das ist menschlich nicht zu erklären, nur politisch.

Ist es eine Erziehungsmethode, mit dem Tod zu drohen und ständig vom Tod zu reden?

Es ist eine Weltsicht, das Leben ist irdisch, also ist der Tod heilig. Ein Land mit einer so jungen Bevölkerung sollte seiner Jugend mehr als den Tod zu versprechen haben. Todesangst als Erziehungsmethode sorgt für den Fortbestand dieser Weltsicht.

Besteht beim Thema Trauer gesellschaftliche Gleichheit innerhalb der Bevölkerung?

Beim gleichzeitigen Tod vieler Menschen wird Trauer zu einem kollektiven Ereignis in der Gesellschaft. Allerdings geschieht an dieser Stelle auch Diskriminierung. Nur wenn der Verstorbene und die Art seines Todes für angemessen erachtet werden, wird öffentliches Trauern legitimiert. Todesfälle außerhalb dieser Normen werden von Gesellschaft und Staat nicht akzeptiert, so kann nicht jede Trauer, jedes Gedenken und jede Erinnerung öffentlich geteilt werden.

Welche zum Beispiel?

Der Tod eines Partners in einer außerehelichen Beziehungen, Schwangerschaftsabbruch, Tod in sehr hohem Alter, der Tod eines Haustiers, Suizid, der Tod von Trans- oder Homosexuellen, oder der Tod von Terroristen. Auch den Vorschlag zur Errichtung eines „Verräterfriedhofs“ für die Putschisten gehört in diese Rhetorik.

Wozu führt das?

Wer Angehörige auf diese Art verliert, sieht sich aufgrund der Todesursache gesellschaftlich ausgegrenzt. Es gibt also legitime beziehungsweise nicht akzeptierte Todesfällen. Auf diese Weise kann sich Trauer, die doch eine natürliche Sache im Leben ist, in einen Fluch, oder wenn man das so sagen kann, in eine Strafe verwandeln.

Die Dozentin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça, die per Notstandsdekret entlassen wurden, befinden sich seit dem 11. März, also seit 84 Tagen im Hungerstreik. Was würden Sie ihren Familien und allen, die sie lieben, raten?

Zwei stolze Menschen, die bereit sind zu sterben, lösen sich praktisch vor unseren Augen auf. Sie und andere, wie zum Beispiel die Mutter, die während der Ausgangssperren in Cizre ihre verstorbene Tochter im Kühlschrank aufbewahren musste, werden vom Staat auf dieselbe Weise denunziert. So auch die zwei kleinen Jungen, die im Schlaf in ihren Betten starben, als, lassen Sie uns das in Anführungszeichen setzen: „versehentlich“ die Hauswand zum Einsturz gebracht wurde. Die Familien müssen mindestens so couragiert sein, wie die beiden Menschen, die den Tod in Kauf genommen haben, und sie müssen diese Entscheidung respektieren.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

KUTLU ESENDEMIR, 2017-06-02
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