Wenn Babos zur Konfliktlösung schreiten, dann nennt sich das im türkischen Slang „racon“. Der türkische Staatspräsident ernennt sich zum Meister dieser Methode.
Wenn ein Wort von einer anderen Sprache adaptiert wird, ändert sich oft seine Bedeutung. So werden etwa in der Türkei die Frauen in Animierschuppen als konsomatris bezeichnet, ihr Job als konsomasyon. Diese beiden aus dem Französischen übernommenen Fremdwörter bedeuteten ursprünglich Konsumentin („consommatrice“) oder auch Konsum („consommation“).
Die konsomatris, die in der Türkei mit konsomasyon beschäftigt ist, konsumiert. Und zwar reichlich. Die Rechnung dafür zahlt allerdings der Gast, an dessen Tisch sie sitzt.
In derartigen Läden stehen auf der Karte ganz offen zwei Preise: Konsumiert der männliche Gast das Getränk, kostet es etwa zwanzig Lira – aber vierzig, wenn die konsomatris es trinkt. Soweit ich gehört habe, spielt in solchen Lokalen jedoch kaum eine Rolle, was du verzehrst oder trinkst. Denn am Ende ziehen sie dir ohnehin dein gesamtes Geld aus der Tasche.
Ich denke, es gibt keine Entsprechung für konsomatris im Deutschen. Im amerikanischen Englisch gab es in den 1930ern das „B-Girl“, aber auch das trifft es nicht ganz, denn die konsomatris redet, solange er Getränke bestellt, ihn mit „mein Gatte, mein Schätzchen“ usw. an und verhält sich entsprechend. Es ist eine Art „girlfriend“- Erfahrung, allerdings ohne Sex. Die Beziehung beschränkt sich darauf, am Tisch so zu tun, als wäre man ein Paar.
Die besonders häufig verwendete Anrede „mein Gatte“ lässt mich vermuten, dass hier Männer, die mit ihrer Ehefrau nicht in Bars gehen wollen (oder die nicht begeistert davon sind, dass ihre Frau überhaupt das Haus verlässt) auf diese Weise auch einmal erleben können, wie Mann und Frau gemeinsam ausgehen und ein, zwei Gläser trinken. Ganz so, wie sie es aus dem Fernsehen kennen.
Racon (radschon gesprochen) ist auch so ein Wort. Im Duden habe ich es in der aus dem Türkischen adaptierten Form nicht finden können, aber im Duden steht auch das Wort Babo nicht, dass 2013 in Deutschland zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde. Wer weiß, vielleicht bringt unser Bruder Haftbefehl (Hafti Abi) einmal einen Song mit dem Titel Racon heraus und vermacht damit der deutschen Sprache „die Racon“ als brandneue Vokabel.
Racon kam aus dem Italienischen zu uns, da bedeutet es soviel wie Ursache, Beweggrund, Gebrauch des Verstands. Bei uns dagegen erhielt es im Slang die Bedeutung eines lokalen Babo, um Konflikte aus der Welt zu räumen, wird also etwa im Sinn von Rahmenbedingungen einer Gemeinheit, einer Schurkerei benutzt. Falls es auf Deutsch eine Entsprechung dafür gibt, kann die auch für das türkische racon verwendet werden.
Also: Kiezgangster, die racon ausüben, sich Messerstechereien liefern, Leute verprügeln oder Schutzgelder kassieren, rennen natürlich nicht zur Polizei, zum Richter oder Staatsanwalt, wenn es Probleme unter ihnen gibt. Diese Typen missachten die Regeln und Gesetze, die von der Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Racon kommt bei Fragen der Selbstjustiz zum Einsatz. Wenn Gerechtigkeit ohne offizielle Kompetenz hergestellt werden soll.
Zu Beginn des berühmten Films Der Pate regelt Marlon Brando all die Angelegenheiten, die an ihn herangetragen werden – genau das könnten wir als racon bezeichnen. Wenn man genau hinschaut, schafft Brando beim racon zwar für den Moment Abhilfe, allerdings sind die Leute ihm dann auch für immer etwas schuldig.
Eine Methode, die im Laufe der Geschichte immer wieder von Banden organisierter Kriminalität angewendet wurde: Wenn Robin Hood von den Reichen nahm und den Armen gab, nahm er vermutlich zehn Teile vom Reichen, gab dem Armen aber nur einen ab und sorgte damit zudem dafür, dass der Arme ihn, wenn nötig, versteckte oder beschützte.
Wenn die Bevölkerung in Anatolien einst Banditen schätzte, dann deshalb, weil sie gegen die Mächtigen kämpften, die das Volk ausbeuteten. Und wenn sie einen Nutzen davon hatten, dann wurde eben auch eine Gegenleistung dafür erwartet.
Die romantisierten Istanbuler Babos, die einst ihre Kieze beherrschten, verteilten keine Almosen an die Bewohner. Sie verlangten Gegenleistungen, wie das Aufnehmen der Schuld für kriminelle Taten. Auf diese Weise begaben sich die Babos der Justiz gegenüber mit menschlichen Schutzschildern.
Die lokale Bevölkerung wandte sich mit Streitigkeiten auch nicht an die Polizei, sondern an den lokalen Babo, um die Sache geregelt zu bekommen. Allerdings hätten sie auch mächtig Probleme bekommen, wenn sie den Babo umgangen hätten. Dies wäre ein verstoß gegen die racon.
Wenn wir die Frage stellen, wessen racon gilt, lautet die Antwort immer, dass die Schurken den Ton angeben. Recht und Gesetz gilt für sie nicht. Die Babos versetzen ihren Kiez in Angst und Schrecken. Die Regeln, die sie einführen, um einerseits ihren Kiez weiter terrorisieren zu können und andererseits ihren handgemachten Terror in den Augen der Leute zu rechtfertigen, werden als racon bezeichnet.
Wer nach dem Gesetz des Racon lebt, lehnt es ab sich an die allgemein vereinbarten gesetzlichen Regeln zu halten. Er will nicht, dass in seinem Viertel außer den Regeln, die er selbst eingesetzt hat und die selbstverständlich alle nur seinen Interessen dienen, irgendein Recht und Gesetz zur Anwendung kommt.
Racon ausüben heißt, dem Volk zu sagen: „Verlasst euch nicht vergebens auf Gerichte, Polizei und die Welt außerhalb vom Kiez, hier kassiere ich die Schutzgelder. Und ich verteile hier das Tippgeld. Das Gesetz bin ich!“
Diese Gedanken zu racon beziehen sich auf eine Bemerkung Erdoğans, der am 20. August 17 seiner Partei auf einem Kongress in Istanbul die Leviten las und u.a. sagte: „Wenn hier einer racon ausübt, dann bin ich das!“