Vor elf Jahren wurde in einem Istanbuler Polizeirevier der nigerianische Geflüchtete Festus Okey erschossen. Nun wird sein Prozess neu aufgerollt.
Im dritten Stock des Justizpalastes im Istanbuler Stadtteil Çağlayan wartet eine Gruppe Menschenrechtler*innen. Am Mittwochmorgen wird hier der Prozess des 2007 im Polizeigewahrsam getöteten Festus Okey nach elf Jahren neu aufgerollt. Der Korridor zum Verhandlungssaal ist abgesperrt. Vor der Absperrung stehen Sicherheitsbeamte mit einer Liste der Verhandlungen, die an diesem Tag stattfinden. Unter dem Fall von Festus Okey ist nur der Anklagepunkt angegeben: „Fahrlässige Tötung“. Das Namensfeld des Angeklagten und des Opfers bleibt leer.
Dabei ist der Name des nigerianischen Geflüchteten, der 2007 in Polizeigewahrsam getötet wurde, in der türkischen Öffentlichkeit bekannt. Der Polizist, der ihn erschoss, heißt Cengiz Yıldız. Festus Okey war 2005 mit dem Traum nach Istanbul gekommen, Fußballer zu werden. Zwei Jahre später, am 20. August 2007, wurde der 25-Jährige im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu mit seinem Freund M.O. von Zivilpolizisten wegen Verdachts auf Drogenbesitz festgenommen und in die Polizeiwache von Beyoğlu gebracht. Dort fiel ein Schuss, Festus Okey wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, wo er wenig später starb.
Ähnlich wie der Mord an Oury Jalloh in Deutschland sorgte die Tötung von Festus Okey in der Türkei für Aufsehen. Der Anwalt Alp Tekin Ocak, der die Verhandlung als Prozessbeobachter verfolgt, kritisiert, dass der Prozess von Anfang an unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden habe. „Zahlreiche Vereine, Stiftungen und Personen versuchten, Nebenkläger zu werden, doch das Gericht wies alle Anträge zurück.“ Bis heute gibt es zum Tathergang zahlreiche Ungereimtheiten.
Die Polizei gab nach der Tat an, Okey habe versucht, dem Polizisten die Waffe zu entwenden und sich dabei selbst getroffen. Von der Tatnacht gibt es keine Videoaufzeichnungen, da die Überwachungskamera im Polizeigewahrsam nach Polizeiangaben nicht funktionierte. Aus welcher Entfernung und welchem Einschusswinkel die Waffe abgefeuert wurde, konnte nicht ermittelt werden, weil das wichtigste Beweisstück, Okeys Hemd, im Krankenhaus verschwand.
2011 wurde der Polizist Cengiz Yıldız wegen fahrlässiger Tötung zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Doch die Haftstrafe wurde drei Jahre später in der Revision widerrufen, Yıldız ist bis heute auf freiem Fuß. Das Urteil des Revisionsgerichts ist noch nicht rechtskräftig.
Nun wird erneut verhandelt. Außer dem Angeklagten Cengiz Yıldız und seinem Verteidiger befinden sich nur wenige Zuschauer*innen im Gerichtssaal. Neun Menschen lässt der Vorsitzende Richter Kenan Seyran in den Saal, darunter einige Anwält*innen und Journalist*innen. Alle anderen müssen draußen bleiben, der Richter argumentiert mit Sicherheitsbedenken. Auf die Forderung der draußen Wartenden reagiert der Richter patzig: „Soll jetzt ganz Istanbul den Prozess begleiten, oder was?“
Auch die Bitte des Anwalts Alp Tekin Ocak, wenigstens noch die Reporterin und die Gerichtszeichnerin, in den Saal zu lassen, wird abgewiesen. „Soll die Zeichnerin gefälligst gehen und Fantasiebilder malen. Und Reporter brauchen wir hier auch nicht.“
Während sich diese Szenen abspielen, sitzt der Angeklagte still auf seinem Platz und sagt kein Wort. Als er vom Richter nach seiner aktuellen Meldeadresse gefragt wird, antwortet Yıldız mit zitternder Stimme. Während der Verhandlung kommt heraus, dass der Angeklagte in den vergangenen Jahren ungehindert weiterhin als Sicherheitsbeamter tätig war.
Im Prozess, der am 27. November 2007 begonnen hatte, blieben zahlreiche Fragen offen. Vom ersten Prozesstag an ging es in jeder Verhandlung darum, zu beweisen, dass der Getötete Festus Okey ist. Seine Identität konnte bis heute vor Gericht nicht festgestellt werden. Dabei war Okeys Leichnam seiner Familie in Nigeria geschickt worden. Wenn nicht klar war, wer der Getötete war, wie wurde seine Familie ausfindig gemacht? Auch beim UNHCR war Okey registriert, da er dort Asyl beantragt hatte.
Das Migrants Solidarity Network in Istanbul, das sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt, fand im November 2011 schließlich Okeys Bruder Tochukwu Gameliah Ogu in Südafrika. Ogu beantragte, als Nebenkläger zum Prozess zugelassen zu werden. Auf diese Weise hätten die Ermittlungen ausgeweitet werden können. Das Gericht wies seinen Antrag zurück. Der Prozess ging zu Ende, ohne dass ein Anwalt Festus Okey vertrat.
Die vierjährige Haftstrafe, die der Polizist Cengiz Yıldız bekam, wurde seitdem bereits zwei Mal vom Revisionsgericht gekippt. Das Gericht begründete seine Entscheidung jedes Mal damit, dass das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Festus Okey und seinem Bruder geklärt werden müsse. Ein DNA-Test des Bruders wurde vor Gericht nicht als Beweis akzeptiert.
„Wenn sich das Gericht heute nicht so vehement gegen Prozessbeobachter gewehrt hätte, dann wäre die Verhandlung sicher fairer gelaufen“, sagt Anwalt Alp Tekin Ocak. Okeys Bruder werde sich erneut einem DNA-Test unterziehen. Allerdings habe die türkische Botschaft in Südafrika noch nicht auf seinen Visa-Antrag reagiert. „Wenn das Gericht eine Einladung ausspricht, wird er viel leichter ein Visum erhalten“, sagt Ocak während der Verhandlung.
Der Verteidiger des Polizisten Yıldız, Vehib Kahveci, erwidert, dass dem Ocak überhaupt keine Vollmacht von Ogu vorliege. Auch sei nicht klar, an wen der Leichnam von Festus Okey bei seiner Rückführung übergeben worden sei. „Der Verstorbene ist Festus Okey, aber war das wirklich seine Familie? Ist Ogu wirklich sein Bruder? Wir glauben nicht. Diese Untersuchung kann nur mit der Exhumierung des Grabes in Nigeria fortgesetzt werden“, sagt Kahveci im Gerichtssaal.
Ein Urteil wird auch an diesem Mittwoch im Dezember nicht gefällt. Der Vorsitzende Richter beschließt nach einstündiger Verhandlung, dass Okeys Bruder Ogu am Prozess teilnehmen kann. Außerdem ordnet das Gericht weitere Untersuchungen zum Verwandtschaftsverhältnis zwischen Okey und Ogu an. Zum dritten Mal, elf Jahre nach dem Mord an Festus Okey.
„Dreieinhalb Jahre vergingen damit zu beweisen, dass der Getötete wirklich Festus Okey ist. Das war eine Strategie der Verteidigung, Ungewissheit zu erzeugen,“ sagt Ocak nach der Verhandlung. Der Prozess wird am 2. April 2019 fortgesetzt.
Aus dem Türkischen von Canset İçpınar und Elisabeth Kimmerle