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Mehter für Alle

Mehter: Seelenfutter für Patrioten

Wer braucht schon ein geregeltes Einkommen oder eine Krankenversicherung? Die türkische Antwort auf den Sozialstaat heißt Heimatliebe und dieser hat einen Soundtrack.

SIBEL SCHICK, 2017-05-14

Unsere Essgewohnheiten zeigen, wie patriotisch wir „Türken“ sind. So sehen wir in dem häufigen Verzehr von Fast Food ein Indiz für den Beginn kultureller Degeneration. Wie könnte ein ekliger Burger auch den Platz von frisch mit Olivenöl zubereiteten Okraschoten einnehemen? Und wenn Sie im Ausland, beispielsweise im Urlaub, sich nicht verzeifelt nach der heimischen Küche verzehren, dann deutet das in jedem Fall auf eine Persönlichkeitsstörung hin und vor allem darauf, dass Sie ihr Land nicht genug lieben.

Vergangenen Woche, kurz nach dem die Bekanntgabe der diesjährigen Preise für Tomaten eine kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit entfachte, wurde ein Armutsanstieg von 12, 6 Prozent (seit Jahresbeginn) in der Bevölkerung verkündet. Zum Glück, kam die rettende Nachricht für Familien von dem Nachrichtensender A Haber: Esst Mehter, statt Menemen! Wie sind wir bloß nicht selbst darauf gekommen? Dabei lag die Lösung seit Jahrhunderten vor unseren Augen. Letztens hatte ich so einen Hunger, da zündete ich Kohle an und schmiss meinen Patriotismus auf den Grill. Mmmh Mehter!

Mehter ist die Marschmusik der Janitscharen, die während der Osmanenherrschaft als Kinder ihren nichtmuslimischen Familien entrissen und Zeit ihres Lebens als Soldaten gefristet haben. Der Marsch enthält die Liedzeilen, wie man im Namen von Allah Blut vergießt und Eroberungszüge antritt. Sicherlich ist diese Musik für wahre Patrioten nicht nur Futter für die Seele, sondern stillt auch ihren irdischen Hunger. Der Mehter-Marsch hat aber wahrhaft mehr als nur die Funktion das Hungerleiden von Patrioten zu stillen.

Vergangenes Jahr im März kam im Rahmen der Şırnak Blockade der Mehter-Marsch als Instrument im Kampf gegen den Terror zum Einsatz. Gleich nach der Verkündung der Ausgangssperre in der ostanatolischen Stadt hat die dröhnende Mehtermusik, die aus gepanzerten Fahrzeugen des Militärs schallte, die Abwehr der Terrorist*innen zerschmettert. Auf diese Weise konnten die Bomben erfolgreich ihre Zielpunkte eliminieren und eine gesamte Stadt von der Landkarte radieren.

Im internationalen Kulturustausch sind wir als mit der Türkei verbundene Menschen äußerst kompetent in der Vertretung türkischer Anliegen. So haben wir im Frühjahr während der diplomatischen Krise mit der holländischen Regierung öffentlichkeitswirksam den Saft aus erdolchten Orangen geschlürft, um deutlich zu machen, dass in Bezug auf unsere Heimatliebe nicht mit uns zu scherzen ist. Nicht zu vergessen die 40 Kühe, die wir aufgrund ihres Verdachts auf holländische Abstammung, des Landes verwiesen haben. Das soll der Europäischen Union, die uns stets mit erhobenem Zeigefinger von oben herab behandelt, eine Lehre sein: Wir werden uns nicht beugen! Wir werden eure Orangen nicht fressen, höhstens ihnen den Saft ausquetschen und den übriggeblieben Rest in die Tonne kloppen.

Ein weiteres Beispiel für außergewöhnlich diplomatisches Verhalten ereignete sich Anfang Mai. Bei seismologischen Untersuchungen eines türkischen Schiffes in zypriotischen Gewässern wurde das Schiff durch die Republik Zypern auf Grenzverletzungen ihres Hoheitsgebiet verwiesen. Auf die Verwarnung antwortete die türkische Schiffscrew mit der Abspielung der Mehter-Marschmusik, die Sie über Funk an die Zentrale sendeten. Es handelt sich hierbei selbstverständlich nicht um die Okkupation fremder Gewässer, sondern lediglich um ein Vorrücken im Namen Gottes, und das ist ja wohl völlig legitim.

Wir brennen für die Widerauferstehung und Befreiung, wir sehnen uns nach dem Mehter und dem glorreichen Osmanischen Reich. Wir warten auf einen Souverän, der skrupellos seine Familienmitglieder erdrosseln, vergiften und Köpfen lässt, dem jegliche Schwäche und Unterwerfung fremd ist. Wir warten auf die Einrichtung von Ausbildungsstätten, in denen seine zahllose Gemahlinnen auf ihr Leben im Harem vorbereitet werden.

Auch wenn unser Leid kein Ende nimmt, haben wir keine Mühe Trost zu finden. Wir geben dem hungrigen Kleinkind zu Hause Mehter zu essen, und bedecken den Sarg des im Krieg gefallenen Kindes mit Mehter. Den Feind vor der Haustür wehren wir in Streetfigtermanier mit einem Hadouken-Mehter ab, wenn unser Zuhause einstürzt suchen wir Zuflucht im Mehter, statt Nachrichten hören wir Mehter, im Winter wärmen wir uns mit Mehter, unsere Saat bewässern wir mit Mehter, all unser Leiden heilen wir mit Mehter. Nun frage ich euch, ihr Europäer*innen, was mehr kann ein Mensch, der soetwas großartiges wie einen Mehter hat, noch von seinem erhabenen Staat erwarten?

SIBEL SCHICK, 2017-05-14
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